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Erklärende Naturgeschichte

Kann der Ablauf der Stammesgeschichte narrativ erklärt werden? Welche Vorteile bietet eine erklärende Naturgeschichte zur Einführung in evolutionäres Denken?

Evolution ist an Gymnasien lange Zeit nur als krönendes Thema zum Abschluss der Sekundarstufe II behandelt worden. Zunehmend wird heute erkannt, dass man Evolutionsaspekte aber bei möglichst vielen biologischen Themen ansprechen und diese so sinnvoll miteinander verknüpfen sollte. Biologie ist eine historische Naturwissenschaft und historische Erklärungen sind zu aktualen theoretisch und methodisch gleichwertig. Mit dem historischen Charakter der Biologie ist es geboten, das Thema schon früh, also auch in unteren Klassenstufen der Sekundarstufe I, zu unterrichten. Allerdings eignet sich als Einführung in evolutionäres Denken nicht so sehr die Theorie der Ursachen (Selektionstheorie) als vielmehr die der Naturgeschichte, die den Ablauf der Stammesgeschichte narrativ erklärt. Dieser Aspekt der Evolutionsbiologie kann als erklärende Naturgeschichte bezeichnet werden (Gerd von Wahlert). Sie eignet sich wegen der Anschaulichkeit besonders für junge Lernende.

Es ist angebracht, dabei auf die bei Schülerinnen und Schülern verbreiteten Alltagsvorstellungen einzugehen und diese durch fachliche Klärungen zu revidieren.

Anpassung an die Umwelt?

Bei den Vorstellungen zur Anpassung genügt es nicht, auf passive Wendungen zu achten, nach denen Organismen sich nicht (aktiv) anpassen, sondern angepasst werden. Der Schlüssel zum Verständnis des Anpassungsprozesses ist: Lebewesen und Umwelt beeinflussen sich gegenseitig. Lebewesen werden zwar einerseits an die Umwelt angepasst, andererseits verändern sie aber auch ihre Umwelt. Charles Darwin spricht deshalb stets von der Anpassung der Organismen an die Lebensbedingungen. Damit verknüpft er beide Seiten des Anpassungsprozesses – Umweltfaktoren und Lebensweise der Organismen – gleichwertig miteinander. So sind Spechte nicht einfach an Baumstämme angepasst. Vielmehr verändern sie die Baumstämme, indem sie Höhlen in sie bauen, die wiederum die Umwelt für andere Lebewesen verändern, die sie nachfolgend für sich nutzen, wie die Hohltaube. Das Vorkommen der Hohltaube ist daher an die Verbreitung des Schwarzspechts gebunden.

Höherentwicklung?

Mit Evolution wird gern von Höherentwicklung gesprochen. Innerhalb der Wirbeltiere stellt man gern eine aufsteigende Reihe von Fischen über Amphibien und Reptilien zu den Säugetieren auf. Spätestens beim Einbeziehen der Vögel wird diese Reihung fragwürdig: Was könnte
die Säugetiere über die in mancher Hinsicht leistungsfähigeren Vögel stellen? Man beachte das Fliegen und die gegenüber Säugern differenziertere Lunge. Sogenannte niedere Tiere leben nicht schlechter, sondern anders als die sogenannten höheren. Höherentwicklung ist ein durch subjektive Urteile biologisch untaugliches Konzept.

Ein zentrales Thema ist die Evolution der Wirbeltiere vom Wasser ans Land – und zurück. Dabei zeigt sich, dass die sogenannten Höheren die Niederen nicht verdrängt haben, sondern mit ihnen in Koexistenz zusammenleben.

Gerade Stammeslinien?

Der Eindruck der Höherentwicklung wird besonders dann erweckt, wenn man die Stammesgeschichte einer Art unverzweigt zurückverfolgt. Das ist naheliegend, wenn in der Evolution nur eine Gattung oder nur eine Art bis heute übrig geblieben ist. So redet man beim Pferd und beim Menschen gern von einer Höherentwicklung, aber niemand redet von einer Höherentwicklung von Wiederkäuern oder gar von Mäusen, bei denen eine Vielzahl von Arten existiert. Dabei zeigt die Naturgeschichte von Pferden und Menschen, dass es ehemals viele Arten von ihnen gab und ihre Stammeslinien daher ebenso verzweigt sind wie bei Wiederkäuern und Mäusen.
Das Prinzip der Evolution ist Verzweigung: Evolution geht in alle Richtungen, sodass alle Lebensmöglichkeiten der Lebewesen einer Verwandtschaftsgruppe genutzt werden (adaptive Radiation).

Ähnlichkeit bestimmt Verwandtschaft?

Kann man Verwandtschaft daran erkennen, dass sich Organismen ähnlich sind? Verwandte sind sich häufig ähnlich: Geschwister sind sich ähnlich (wenn sie es denn sind), weil sie verwandt sind. Gemeinsame Abstammung (stammesgeschichtliche Verwandtschaft) ist die Ursache von Ähnlichkeit. Umdrehen lässt sich der Satz nicht: Ähnlichkeit ist nicht Ursache von Verwandtschaft, denn sie kann unabhängig voneinander durch ähnliche Lebensbedingungen entstehen. Evolutionsbiologisch heißt sie Konvergenz. Andererseits können nah verwandte Lebewesen sich stark voneinander unterscheiden, weil sie in ihrer Evolution gegenüber den Verwandten stark abgewandelt sind. Diese Erscheinung heißt Divergenz.

Konvergenz und Divergenz bei vier Wirbeltiergruppen. Konvergenz: schnell schwimmende Fischfresser (aus Kattmann: Naturgeschichte der Wirbeltiere)

Gleichförmige Arten?

Jeder Mensch glaubt, dass er einzigartig ist. Das gilt aber auch für alle anderen Menschen. Häufig stellt man sich jedoch vor, dass die Individuen derselben Tierart sich kaum voneinander unterscheiden. Darüber hinaus stellt man sich vor, dass die Angehörigen derselben Art in der Evolution alle gleichzeitig und gleichförmig abgeändert werden. Demgegenüber ist zu betonen, dass die Individuen einer Art sich unterscheiden. Diese Variation ist eine Voraussetzung für die Evolution der Arten, indem bestimmte Varianten sich vermehrt fortpflanzen.

Prof. Dr. Ulrich Kattmann


Weitere Informationen:

Der hier vorliegende Beitrag basiert auf dem Buch von Ulrich Kattmann: Naturgeschichte der Wirbeltiere. Das Buch ist in der Reihe „Neue Wege in die Biologie“ Hannover: Friedrich Verlag erschienen. Die Bücher können neben und im Unterricht verwendet werden, sie sind als Lernbücher zum Selbststudium konzipiert.
Weitere Themen der Reihe sind „Energienutzung durch Organismen“; „Leben mit Tieren“; „Naturwissenschaftliche Erkenntnis“, 2020; in Vorbereitung: „Wahrnehmung“ und „Mit Modellen lernen“.

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