Albert Einsteins Relativitätstheorie dient heute als Werkzeug: Erstmals wurde die Masse eines Sterns anhand der Deformation seiner Raumzeit ringsum gemessen. Schon 1912 hatte Einstein entdeckt, wie ein Stern durch seine Schwerkraft die Lichtstrahlen eines anderen, viel weiter entfernten Sterns geringfügig verbiegt. Weil der Ablenkwinkel winzig ist, schrieb er 1936, nachdem er diesen Gravitationslinseneffekt erneut untersucht hatte: „Selbstverständlich besteht keine Hoffnung, das Phänomen zu beobachten.“
Ein Beitrag von Rüdiger Vaas
Zwar maßen britische Astronomen bereits 1919, dass die von der Allgemeinen Relativitätstheorie als Krümmung der Raumzeit beschriebene Gravitation tatsächlich Lichtstrahlen auf krumme Touren zwingt. Freilich glückte dieser revolutionäre Nachweis lediglich vor unserer kosmischen Haustür: bei der Sonne. Inzwischen jedoch gehört der Gravitationslinseneffekt zum Alltag der Astronom*innen – allerdings hinsichtlich ganzer Galaxien und Galaxienhaufen, nicht einzelner Sterne.
Auf der Suche nach Positionsverschiebungen
Trotzdem wurde der astrometrische Mikrogravitationslinseneffekt nicht vergessen. So wird die scheinbare Positionsverschiebung eines fernen Sterns heute genannt, wenn sein Licht im Gravitationsfeld eines anderen Sterns abgelenkt wird, der – von uns aus betrachtet – fast genau vor dem Hintergrundstern steht beziehungsweise an diesem vorüberzieht. 1964 hatte der norwegische Astrophysiker Sjur Refsdal vorgeschlagen, nach solchen Ereignissen Ausschau zu halten. Das klang damals utopisch. Doch im Jahr 2000 suchten Samir Salim und Andrew Gould von der Ohio State University in Columbus systematisch nach geeigneten Kandidaten. Sie fanden 32 bis zum Jahr 2015. Keiner wurde gemessen. Dank des 2013 gestarteten Astrometriesatelliten Gaia steht nun aber eine Fülle von Präzisionsdaten zur Verfügung. Auf dieser Basis wurden seit 2018 insgesamt rund 7.200 Mikrolinsenereignisse mit Lichtablenkungen von mindestens 0,1 Millibogensekunden in diesem Jahrhundert prognostiziert. Besonders fündig wurden Ulrich Bastian, Markus Demleitner, Jonas Klüter und Joachim Wambsganss vom Astronomischen Rechen-Institut (ARI) der Universität Heidelberg. Auch Daniel M. Bramich und Martin B. Nielsen von der New York University in Abu Dhabi identifizierten zahlreiche Kandidaten.
Vom Testfall zum Messinstrument
Mit dem Mikrogravitationslinseneffekt kam es zu einer bemerkenswerten Entwicklung: Zunächst war die Lichtablenkung die Nagelprobe für die Allgemeine Relativitätstheorie. Um diese zu überprüfen, wurde die Ablenkung immer genauer gemessen – inzwischen mit einer Präzision von 1 zu 10.000. Im Umkehrschluss lässt sich aus der Lichtablenkung aber auch die Masse des Vordergrundobjekts errechnen, das die Krümmung verursacht. Der Effekt kann also gewissermaßen als astrophysikalisches Werkzeug eingesetzt werden: als Sternenwaage. Inzwischen sind drei astrometrische Mikrolinseneffekte gemessen und publiziert worden. Zuerst gelang dies einem Team um Kailash C. Sahu vom Space Telescope Science Institute in Baltimore, Maryland, bei dem 17 Lichtjahre fernen Weißen Zwergstern Stein 2051 B im Sternbild Giraffe mithilfe des Hubble-Weltraumteleskops. Weiße Zwerge sind die kompakten Ruinen ausgebrannter kleiner Sterne, deren Masse nicht ausreichte, um als Supernova zu explodieren. Auch unsere Sonne wird in etwa 7,6 Milliarden Jahren zu einem solchen Zwerg kollabieren, wenn ihr Brennstoff verbraucht ist. 2017 veröffentlichte Sahu das Ergebnis: Stein 2051 B hat 0,675 plus/ minus 0,051 Sonnenmassen. Die zweite Messung glückte mit dem Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte in Chile bei Proxima Centauri, dem mit einer Distanz von nur 4,24 Lichtjahren sonnennächsten Stern. Ein internationales Team um Alice Zurlo von der Universität Santiago de Chile berichtete 2018, dass dieser Rote Zwergstern 0,15 plus/minus 0,06 Sonnenmassen hat. Allerdings ist sowohl Stein 2051 B als auch Proxima Centauri Teil eines Mehrfachsystems. Anders LAWD 37 im Sternbild Fliege am Südhimmel. Mit einer Entfernung von 15,12 Lichtjahren ist er der zweitnächste bekannte isolierte Weiße Zwerg. Er hat etwa ein Hundertstel des Durchmessers unserer Sonne, ungefähr 14.000 Kilometer, und lediglich 0,05 Prozent ihrer Leuchtkraft. Entstanden ist er vor etwa 1,15 Milliarden Jahren. Sein Vorläufer war wahrscheinlich ein heller, heißer Stern mit dem 4,4-Fachen der Sonnenmasse. Der Großteil seiner Materie wurde durch heftige Sternwinde in den Weltraum geblasen – vor allem im aufgeblähten Stadium des Roten Riesen, das dem Kollaps zum Weißen Zwerg vorangeht. Ob LAWD 37 von Planeten umkreist wird, ist unbekannt; eine gezielte Suche des Hubble-Weltraumteleskops konnte keinen nachweisen.
Erste direkte Massebestimmung
LAWD 37 bewegt sich rasch am Himmel. Auf Grundlage der Gaia-Messungen von 2014 bis 2017 hatte Peter McGill von der Cambridge University vorausgesagt, dass LAWD 37 im November 2019 einen 400-mal lichtschwächeren Hintergrundstern passieren würde, und prognostizierte eine scheinbare Positionsverschiebung dieses Sterns um bis zu 2,8 Millibogensekunden infolge seiner Lichtablenkung im Gravitationsfeld des Weißen Zwergs. Daraufhin wurde Beobachtungszeit mit dem Hubble-Weltraumteleskop beantragt – und genehmigt. Nur dieses kann bei derart extremen Helligkeitsunterschieden so präzise messen. Unter der Leitung von Kailash Sahu nahm es LAWD 37 ins Visier, insgesamt neunmal vom 1. Mai 2019 bis zum 16. September 2020. „Diese Ereignisse geschehen sehr selten, und die Effekte sind winzig“, sagt McGill, der nun an der University of California in Santa Cruz forscht. „In unserem Fall war es, als würde man die Länge eines Autos auf der Erde vom Mond aus messen wollen.“ Verglichen mit dem ersten
Nachweis einer Lichtablenkung, während der Sonnenfinsternis von 1919, war der Ablenkungswinkel 625-mal kleiner. Die Messungen waren äußerst schwierig. Der Schein des Weißen Zwergs erzeugt unvorhersagbare Reflexionen in der Optik, sodass jede einzelne Aufnahme sorgfältig analysiert werden musste. Außerdem waren aufwendige Modellsimulationen nötig, um das Rauschen im Detektor zu berücksichtigen und die statistische Güte der Messungen besser
abschätzen zu können. Vor wenigen Monaten stellten Peter McGill und sein internationales Team, zu dem auch Nielsen, Klüter und Wambsganss gehören, die Ergebnisse vor. Während des engsten scheinbaren Abstands am Himmel, 397 Millibogensekunden, betrug die gemessene Lichtablenkung des Hintergrundsterns 2,46 plus/minus 0,34 Millibogensekunden. Das stimmt mit der Voraussage gut überein. Daraus ergibt sich, dass LAWD 37 0,56 plus/minus 0,8 Sonnenmassen schwer ist. Das Resultat ist die erste quasi direkte Massebestimmung eines Einzelsterns (abgesehen von der Sonne). Es passt gut zu den Modellen der Entstehung und Entwicklung von Weißen Zwergen. Weitere Mikrolinsenmessungen von LAWD 37 werden mithilfe anderer Hintergrundsterne in den nächsten Jahrzehnten möglich sein. Damit wird sich die erste Messung nicht nur überprüfen lassen, sondern die Masse des Weißen Zwergs könnte im Idealfall auch auf bis zu drei Prozent genau bestimmt werden.
Leuchtende Zukunft
Dank der Präzisionsdaten von Gaia sind künftig noch viele Mikrolinsen messbar, auch von gewöhnlichen Sternen. „Bis 2030 gibt es etwa 50 bis 100 Ereignisse, die gut beobachtet werden können“, ist Jonas Klüter zuversichtlich, der inzwischen an der Louisiana State University in Baton Rouge arbeitet. Einen weiteren Weißen Zwerg hat Kailash Sahu schon im Visier: LAWD 66 in 74 Lichtjahren Entfernung – dieses Mal jedoch nicht mit Hubble, sondern mit dem 2021 gestarteten James Webb Space Telescope. Die ersten Aufnahmen wurden bereits 2022 gemacht, zur maximalen Lichtablenkung kommt es im August 2024. Weil Webb für infrarote Wellenlängen empfindlich ist, in denen Weiße Zwerge weniger hell strahlen, tritt der lichtschwache Hintergrundstern deutlicher hervor. Und Jonas Klüter hat mit dem ARI-Team für 473 verschiedene Zwergsterne 625 Ereignisse in den nächsten Jahrzehnten vorausberechnet. Die Relativitätstheorie wird Einsteins Zweifel zum Trotz also bald wie am Fließband als astrometrisches Werkzeug zum Einsatz kommen.
Rüdiger Vaas
Rüdiger Vaas ist Publizist, Dozent sowie Astronomie-und Physik-Redakteur beim Monatsmagazin bild der wissenschaft und Autor von 14 Büchern, darunter Einfach Einstein! (Kosmos, 2018).