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Hauptsache Lesen? Was beim Bildschirmlesen zu beachten ist

Digital First, Textverstehen zweitrangig? Der Eindruck könnte entstehen, wenn man das Leseverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit den Ergebnissen der empirischen Leseforschung kontrastiert. Denn die Leseforschung sagt, dass wir anspruchsvolle Sachtexte weniger gut verstehen, wenn wir sie digital lesen. Befragt nach ihren Lesegewohnheiten berichten aber Studierende, dass sie mehr als 80  Prozent ihrer Lesezeiten vor dem Bildschirm verbringen. Belletristik wird hingegen lieber auf Papier gelesen als auf dem E-Reader. Dabei gibt die Leseforschung mit Blick auf die narrativen Texte Entwarnung: Ein Nachteil ist mit der digitalen Lektüre nicht verbunden.

Die Paradoxien lassen sich besser verstehen, wenn neben dem Genre (Sachtexte vs. Erzähltexte) und dem Lesezweck (Lernen vs. Unterhaltung) auch die Lesemodalität (informatorisch vs. intensiv) betrachtet wird. Dies soll im Folgenden geschehen. Der Fokus liegt dabei auf den Sachtexten, die zu Lernzwecken gelesen werden. Sie sind in schulischen Zusammenhängen von besonderer Relevanz.

Digitale Texte werden schneller gelesen

Vor mehr als vier Jahren hatten sich im norwegischen Stavanger mehr als 130 Leseforscher*innen besorgt über die Zukunft des Lesens in einer zunehmend digitalisierten Welt geäußert. Ergebnisse von Metaanalysen wiesen auf eine Bildschirmunterlegenheit beim Lesen längerer Sachtexte hin. Zu dieser Bildschirmunterlegenheit kommt es offenbar, weil digitale Texte schneller, unkonzentrierter, sprunghafter und weniger sorgfältig gelesen werden als Texte auf Papier. Das digitale Endgerät – mehr mit dem passiven Konsumieren assoziiert als mit dem aktiven Lernen  – triggert ein eher oberflächliches Lesen. In Stavanger wurde die Besorgnis geäußert, dass mit einem exzessiven Bildschirmlesen die Fähigkeit zum langsamen, gründlichen und konzentrierten Lesen verloren gehen könnte.

Vorteile digitaler Texte

Häufig handelt es sich bei den Sachtexten um Einzeltexte. Es können aber auch zwei oder mehr Sachtexte zugleich  – wenn auch nicht gleichzeitig – gelesen werden. All dies kann sowohl am Bildschirm als auch auf Papier geschehen. Interaktive Texte, die über Verknüpfungen unmittelbar zu weiteren Text-, Ton- oder Bilddokumenten führen, lassen sich hingegen nur am Bildschirm lesen. Das Lesen solcher Hypertexte erschließt die besonderen Möglichkeiten des digitalen Lesemediums. Es ist aber auch mit besonderen Anforderungen verbunden. Das kompetente Navigieren („To click or not to click?“), eine sorgfältige Quellenprüfung („Who’s behind the information?“) und das Integrieren widersprüchlicher Informationen gehören dazu. Die erwähnte Bildschirmunterlegenheit hat sich beim Lesen von Einzeltexten gezeigt. Wenig überraschend. Denn mit dem Lesen bloßer PDF-Klone papierener Einzeltexte sind die Nachteile des digitalen Lesemediums verbunden, ohne dass seine primären Vorzüge zum Tragen kämen – neben der Interaktivität ist dies die Ermöglichung nicht linearer und höchst individueller Lesepfade. Dies ist zu bedenken, bevor das (begrenzte) Phänomen der Bildschirmunterlegenheit zum Anlass genommen wird, die digitalen Möglichkeiten vorschnell mit dem Bade auszuschütten. Unstrittig sind ohnehin die sekundären Vorteile: Digitale Texte sind leicht zugänglich und ortsunabhängig verfügbar.

Wir lesen, um zu lernen

Wissenserwerb und Wissensvermittlung jenseits des Schriftsprachlichen sind kaum mehr vorstellbar. Lesen muss man können. Auf der Wortebene ist Lesen zunächst einmal ein Prozess der visuellen Wahrnehmung. Aus kognitionspsychologischer wie aus neurowissenschaftlicher Sicht macht es dabei keinen Unterschied, ob gepixelte Punkte auf einem Bildschirm oder druckschwarze Buchstaben auf dem Papier zu sehen sind. In beiden Fällen kommt es durch eine Reihe kohärenzstiftender höherer Verarbeitungsprozesse zu einer mentalen Repräsentation des Gelesenen auf der Satz- und Textebene. Spezifische Leseabsichten und inhaltliches Vorwissen erleichtern das Textverstehen. Ein gut geschriebener Text ebenso! Schulen und Universitäten treiben die Digitalisierung des Lesens vehement voran. Wissenschaftliche Zeitschriften gibt es bald nur noch in elektronischer Form. Die gedruckte Encyclopaedia Britannica hat 2012 nach 244  Jahren das Aus ereilt und den deutschen Brockhaus kurz darauf. Digital wird also das neue Normal. Digitales Lesen muss aber gelernt werden.

Informatorisches vs. verstehendes Lesen

Dass der am Bildschirm gelesene Sachtext weniger gut verstanden und behalten wird, liegt nicht am Lesemedium an sich, sondern an einem veränderten Leseverhalten. Denn beim Bildschirmlesen geraten wir leicht in einen informatorisch-zweckorientierten Lesemodus. Funktional ist ein solcher Lesemodus dann, wenn es um das rasche Suchen und Finden von Informationen in einem Text geht. Der Vorteil des elektronischen Mediums liegt hier auf der Hand: Überblickend-überfliegend (Skimming) und gezielt-suchend (Scanning) lässt sich am Bildschirm meist effizienter lesen
als auf Papier. Für das Verstehen und Behalten längerer Sachtexte ist ein oberflächlich-flüchtiger Lesemodus hingegen nachteilig. Das intensiv-gründliche Lesen braucht Zeit und Anstrengung. Empirische Studien haben gezeigt, dass es beim Bildschirmlesen häufiger zu Ablenkungen und Leseunterbrechungen kommt als beim Lesen auf Papier. Hinzu kommt ein Realitätsverlust, der sich in einer Überschätzung des eigenen Textverstehens und in einer Unterschätzung der Textschwierigkeit manifestiert. So wird das Auffinden von Informationen mit dem Verstehen von Zusammenhängen verwechselt. Dazu passt, dass der digitale Lesevorgang schneller beendet wird. Kein Wunder, dass die Leseleistungen dann unzureichend sind.

So lässt sich die Bildschirmunterlegenheit überwinden

Lese-Tipps

Andreas Gold: Digital lesen. Was sonst? Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, 181 S., 23 Euro, 2023

Das Abdriften ins Oberflächliche muss nicht sein. Intensiv-verstehend kann ein Text gedruckt wie gepixelt gelesen werden. Dazu gehört es, bewusst langsamer zu lesen, sich digital oder analog fortlaufend Notizen zu machen und sich zwischendurch Fragen zum Text zu stellen und
zu beantworten. Es liegt aber auch in der Verantwortung der Lehrpersonen, zum verstehenden Lesen anzuleiten. Die Leseforschung zeigt: Wenn Texte für Studierende besonders interessant waren, wurden sie auch am Bildschirm motivierter und konzentrierter gelesen. Wenn der Leseauftrag mit einer anspruchsvollen Form der Ergebnissicherung verknüpft war (und nicht nur mit der Beantwortung von Richtig-/Falsch-Fragen), wurde auch am Bildschirm intensiver und gründlicher gelesen. Wenn die Lesegeräte offline waren, war das Ablenkungspotenzial geringer.

Fazit

Es ist Geschmackssache, ob wir Krimis und Romane am Bildschirm oder auf Papier lesen. Beide Lesemedien ermöglichen den immersiven Lesemodus des zeitvergessenen Lesens (Deep Reading). Beim Bildschirmlesen von Sachtexten muss man sich um einen intensiv-verstehenden Lesemodus (Deep Understanding) jedoch aktiv bemühen.

Dr. Andreas Gold

Dr. Andreas Gold ist Seniorprofessor für Pädagogische Psychologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist weiterhin Leseforscher und Autor zahlreicher Lehrbücher.

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