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Fachdidaktische Potenziale – wie modulare Systeme den Unterricht bereichern können

Die Vorgaben des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) für das Abitur in Mathematik lassen den Schulen zwei Alternativen bei der Wahl des rechnerischen Hilfsmittels: das modulare Mathematiksystem (MMS) und den wissenschaftlichen Taschenrechner (WTR). Bei der Entscheidung sollte jedoch nicht das Abitur im Fokus stehen, sondern der fachdidaktische Nutzen für den Unterricht.

Ein Beitrag von Bernd Reckelkamm

Ersteres blendet nämlich aus, dass modulare Systeme eingeführt wurden, um den Unterricht (!) fachdidaktisch zu bereichern. Die drei im Folgenden skizzierten Szenarien zeigen, wie sich die Module eines MMS unter fachdidaktischen Gesichtspunkten für konkreten Unterricht fruchtbar machen lassen.

Szenario 1: Wir klären einen Sachzusammenhang, bewerten und vertiefen das Ergebnis

Die Cola-Dose wird gerne als Beispiel genommen, um die minimale Oberfläche eines Zylinders mit festem Volumen zu bestimmen. Der Unterricht ist zu Beginn offen, mit breit gestreuten Beiträgen und erfolgreichen Arbeitsphasen der Lernenden – zumindest bis zum Aufstellen der Zielfunktion. Die Variable steht im Nenner, die Ableitungsregel dazu liegt oft eine Weile zurück. Ist die Hürde genommen, hat man das Quadrat der Variablen im Nenner. Die notwendige Bedingung ergibt sich daher erst mit zusätzlichen Ideen. Sehr leicht wechselt die Stunde nun zu einer „one person show“: Die Lehrperson bietet den Lernenden Hilfen an, die viele nicht dort abholen, wo sie in der Unterrichtssituation stehen.

Der algebraische Weg ist in der Stunde unglücklich positioniert. Das Nachschlagen der Ableitungsregel und das Analysieren einer Hilfe zur Nullstellenberechnung ist als Hausaufgabe sinnvoller. Ein grafischer Weg lässt Zeit, neben dem optimalen Durchmesser auch die zugehörige Höhe zu interpretieren (h = d ergibt eine Dose für Wurst, nicht für ein Getränk). Zudem regt der in der Nähe des Minimums flach laufende Graph zu der Frage an, welche Radien geeignet sind, wenn man bis zu 5 Prozent mehr Oberfläche als das Minimum erlaubt. Grafisch ist dies eine Schnittaufgabe, algebraisch ist sie nicht lösbar – was dazu führt, dass sie ohne Grafik-Modul oder Gleichungslöser gar nicht erst gestellt wird. Mit Blick auf die Unterrichtssituation und die Fragestellung ist der grafische Weg daher keine Nachbetrachtung, sondern die Hauptbetrachtung. Zudem liefert das CAS-Modul bei der Berechnung der Abweichung einen überraschenden dritten Schnittpunkt. Das kann den Ausgangspunkt bilden für eine vertiefende Betrachtung des Graphen der Zielfunktion aus innermathematischer Perspektive.

Szenario 2: Wir untersuchen einen Zusammenhang systematisch, entdecken eine neue Regel und weisen ihre Gültigkeit nach

Ein erster, qualitativer Blick auf die Ableitung von Exponentialfunktionen, etwa 𝑓 mit 𝑓(x) = 2x, lässt vermuten, dass der Graph von 𝑓‘ wieder eine Exponentialfunktion sein könnte. Führt der Unterricht nun direkt zur Analyse des Differenzenquotienten, bremst dieser rein algebraische Zugriff
viele Lernende aus oder lässt sie lediglich Gedanken nachvollziehen. Nutzt man hingegen tabellarische Übersichten, Streudiagramme und „modellierende“ Funktionen, kann sich ein großer Teil der Lernenden mit eigenen Ideen einbringen. Dazu ergänzen wir die qualitative Betrachtung um eine systematische, quantitative Analyse im Tabellen-Modul: Für ausgewählte Stellen liefert der Rechner die zugehörigen Ableitungswerte, beispielsweise als Sekantensteigungen mit „sehr kleinem h“. In einer weiteren Spalte werden die zugehörigen Funktionswerte aufgelistet. Diese noch rein numerische Übersicht liefert erste Vermutungen: Verdopplung der Ableitungswerte pro ganzem Schritt, Besonderheit der Stelle x = 0, konstanter Faktor zwischen Ableitungswert und Funktionswert. 

Im Grafik- Modul stellen wir nun – zusätzlich zum Graphen von 𝑓 – das Streudiagramm der ausgewählten Stellen und der zugehörigen Ableitungswerte dar. Die Beobachtungen anhand der Tabelle legen nahe, mit welchem konkreten Term man das Streudiagramm um eine „modellierende“ Funktion ergänzen kann: 𝑓'(x) = 0,7 · 2x ist offenbar ein guter Kandidat für die Ableitung von 𝑓. Eine parallele Gruppe käme für 𝑓(x) = 3x auf 𝑓'(x) = 1,1 · 3x als guten Kandidaten. Die Frage, für welche Zahl b man (bx)‘ = bx erhält, dürfte an dieser Stelle durchaus aus der Gruppe kommen. Für die weitere Arbeit kann dieses b numerisch angenähert und etwa im Grafik-Modul kontrolliert werden. Nun fügt sich die algebraische Analyse des Differenzenquotienten stimmig in den Lernprozess ein. Systematisches Erforschen, Visualisierung und algebraische Strenge vernetzen mathematische Kompetenzen auf nachhaltige Weise.

Szenario 3: Wir bilden einen neuen Begriff und erforschen seine Eigenschaften

Antworten von 1.200 Befragten 600 Personen, sie würden bei der nächsten Wahl die Partei A wählen, so kann man nicht von 50 Prozent A-Wähler:innen in der Gesamtgruppe ausgehen. Aber was ist bei 620 Personen? Wählt man zur Modellierung eine Binomialverteilung und nutzt die
σ-Regeln, dann erhält man als 2σ-Intervalle [541,4;610,6] für p = 0,48 bzw. [553,4;622,6] für p = 0,49. Also ist 620 für p = 0,49 ein plausibler Wert. Von 50 Prozent kann man auch hier nicht ausgehen. Für eine systematische Erkundung liefert das Tabellentool des MMS schnell eine Übersicht über die Grenzen der 2σ-Intervalle für p zwischen 0 und 1 in 1-Prozent-Schritten. Das zugehörige Streudiagramm hat eine ellipsenähnliche Struktur.

Die Darstellung visualisiert, wie sich die 2σ-Intervalle auf den Wert 620 zubewegen, bis er plausibel ist (im Intervall liegt), und welche p „zu groß“ für den Wert 620 sind. Nun ist der Begriff des Vertrauensintervalls hinreichend vorbereitet als das Intervall aller Werte für p, für die 620 innerhalb des 2σ-Intervalls liegt. Das Streudiagramm lädt ein, es mit geeigneten Funktionen nachzubauen. Die Terme hat man bereits genutzt. Neu ist hingegen, dass die Grenzen des Vertrauensintervalls als Schnittpunktaufgabe im Grafikfenster bestimmt werden können. Das CAS-Modul gibt darüber hinaus auch die exakten Lösungen an. Das „händische Lösen“ der zugehörigen Gleichungen ist aufgrund der Wurzeln im Unterricht schnell zäh. Es macht Sinn, diese Kompetenz auszulagern und nicht mit der Begriffsbildung und Erkundungen rund um den neuen Begriff zu vermischen.

Bernd Reckelkamm

Bernd Reckelkamm war bis 2022 Lehrer für Mathematik und Philosophie am Helmholtz- Gymnasium Bielefeld sowie Fachleiter für Mathematik am ZfsL Paderborn. Er ist Mitglied im Fortbildungsnetzwerk T3 Deutschland.

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