Skip to content

Alltagsvorstellungen im Biologieunterricht nutzen

Die Beschäftigung mit Alltagsvorstellungen in den Naturwissenschaften ist seit Langem ein Thema der Didaktik. Welche Rolle sie im modernen Unterricht spielen und was überhaupt Alltagsvorstellungen sind, erläutert Prof. Dr. Ulrich Kattmann.

Ein Beitrag von Jörg Schmidt

Die Beschäftigung mit Alltagsvorstellungen in den Naturwissenschaften ist seit Langem ein Thema in der Didaktik. Können Sie uns kurz erklären, was Alltagsvorstellungen sind?

Vorstellungen sind gedankliche Prozesse, die leicht rekonstruierbar sind. Deshalb kann man sie als Konstrukte festhalten, identifizieren und beschreiben – und das sind dann die sogenannten Alltagsvorstellungen. „Schülervorstellungen“ wäre zu eng gefasst, weil man dieselben Vorstellungen – oder ähnliche jedenfalls – auch
bei Erwachsenen finden kann. Deshalb ist der allgemeinere Terminus auch nicht pejorativ gemeint, sondern dient einfach nur als Beschreibung. Die Vorstellungen kommen im Alltag vor, und deshalb sind es Alltagsvorstellungen.

Dr. Ulrich Kattmann, Professor für Didaktik der Biologie an der Universität Oldenburg (i. R.) vermittelt seit über 45 Jahren Themen zur Biologie, vor allem Evolution und Genetik, in Universitäten, Schulen, zahlreichen Vorträgen, Aufsätzen und Büchern.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Beim sogenannten biologischen Gleichgewicht etwa beschreibt eine Fachperson ein Phänomen, das es eigentlich gar nicht gibt. Doch im Alltag wird praktisch angenommen, dass in der Natur ein Gleichgewicht herrscht, das immer wieder angestrebt wird. Dabei gibt es vielmehr Konkurrenz, Zyklen oder Mosaikzyklen, die lediglich so wirken, als formten sie ein Gleichgewicht.

Das heißt, Alltagsvorstellungen sind Vorstellungen, die in der Öffentlichkeit prägnant sind oder sich überall im Alltag platziert haben, die jedoch letztendlich nicht immer mit dem übereinstimmen, was die wissenschaftliche Forschung dazu sagt?

Ganz genau. Deshalb ist es wichtig, die Alltagsvorstellungen mit den wissenschaftlich geklärten Vorstellungen zu konfrontieren. Nur so kann man überhaupt lernen. Man lernt ja nur mit dem, was man schon weiß. Ergo kann man gar nicht ohne Alltagsvorstellungen lernen. Die schwingen immer mit, wenn das Fachliche vorgestellt wird, ganz egal, wie klar und strukturiert eine Lehrkraft ein Thema auch vorstellt.

Es ist also wichtig, dass sich Lehrkräfte intensiv mit den Alltagsvorstellungen der Lernenden auseinandersetzen, um diese dann für den Unterricht fruchtbar machen zu können?

Genau das ist der Punkt. Es geht darum, dass gelernt wird, und lernen kann man nur mit dem, was man schon weiß. Wenn ich als Lehrkraft nicht reflektiere, was meine Schüler*innen schon wissen könnten oder mit welchen Vorstellungen sie diesem Thema begegnen, dann wird es schwer, wirklich fachlich geklärte Vorstellungen nachhaltig zu lehren.

Brücken bauen im Klassenzimmer

Könnten Sie uns ein Beispiel nennen, wie man das in der unsrigen Lebenswelt perspektivisch fruchtbar im Unterricht umsetzen kann?

Ich habe einmal eine Untersuchung zum Thema gemacht, wie Tiere geordnet werden. Hierbei habe ich Schüler*innen gefragt, wie sie einen Satz von etwa 20 Tieren nach ihren eigenen Vorstellungen ordnen würden. Dabei kam heraus: Schüler*innen ordnen nicht nach vordergründig morphologischen Merkmalen, wie das Biolog*innen gerne hätten, sondern sie ordnen vorwiegend nach Lebensräumen und Bewegungsweisen. Und beides korrespondiert: In der Luft kann man fliegen, im Wasser schwimmt man, auf der Erde läuft man. Nun habe ich mich als Biologe gefragt: Wie kann ich das nutzen? Ich könnte zum Beispiel die Evolutionsvorstellungen reinbringen, also die Evolution vom Wasser an Land. Das ist eine Alltagsvorstellung, die mit der fachlichen Vorstellung korrespondiert, dass sich die Wirbeltiere von Fischen zu Landtieren entwickelt haben. Also kann ich die Alltagsvorstellung „Ordnen nach Lebensräumen“ ausnutzen, indem ich die Schüler*innen bitte: Ordnet die Wassertiere nach ihrem Übergang, also Wassertiere, Wasser-/Landtiere, Landtiere. Und das Hübsche bei der Geschichte ist: Bei der letzten Kategorie habe ich eine stammesgeschichtliche Verwandtschaftsgruppe, nämlich die Amnioten, also jene Tiere, die ein Amnion haben. Damit komme ich von der Alltagsvorstellung „Ordnen nach Lebensräumen“ zu der fachlichen Vorstellung „Gliederung nach Abstammungsgemeinschaften“. Hier kann ich wirklich effektiv Alltagsvorstellungen ausnutzen und zu einer adäquateren, zutreffenderen Gliederung kommen, als wenn ich typologisch nach Federn, Haaren, Schuppen und dergleichen ordne.

Ist es so, dass sich die Alltagsvorstellungen verändern, wenn Schüler*innen sich mit deren Hilfe Wissen erarbeiten? Oder bleiben die Alltagsvorstellungen so bestehen, wie sie sind?

Man weiß, dass die sehr resistent sind, deshalb kann man sie auch nicht umgehen oder ersetzen. Das wäre ein Kampf gegen Windmühlen und es wäre auch unsinnig. Alltagsvorstellungen haben ja einen bestimmten Wert im Alltag. Sie werden leichter aufgenommen und akzeptiert als die fachlichen Vorstellungen, einfach weil sie der eigenen Erfahrung entsprechen. Das heißt also, wir können nur mit den Alltagsvorstellungen lernen, und zwar indem wir kontrastieren, anknüpfen oder sie direkt als Brücke verwenden wie beim Ordnen der Tiere. Da ist ja die Alltagsvorstellung sogar die Brücke zu einer zutreffenden fachlichen Vorstellung. Das ist selten, aber es kommt vor.

Glauben Sie, dass das Kontrastieren funktionieren kann? Oder führt es eher zu einer Gegenreaktion, gerade im Lernen?

Ich denke, in dem Augenblick, wo die Nützlichkeit der fachlichen Vorstellungen erkannt wird, gibt es keinen Widerstand. Wenn ich aber einfach nur sage: „So ist es“ oder „So ist es nicht“, dann brauche ich mich nicht zu wundern, wenn da ein Widerstand ist. Alltagsvorstellungen gehen von der eigenen Erfahrung aus. Weshalb sollte ich das als Lehrkraft auslöschen? Das muss ich nutzen.

Lernen mit Metaphern

Basieren Alltagsvorstellungen immer auf der eigenen Erfahrung? Oder können sie auch aus Begrifflichkeiten oder Bildern entstehen, die einem sinnvoll erscheinen und die man aufnimmt, ohne sie zu hinterfragen? Früher wurde im Biologieunterricht zum Beispiel gelehrt: Das Mitochondrium ist das Kraftwerk der Zelle. Das haben viele Schüler*innen dankbar angenommen, so hatten sie ein Bild, und das blieb bestehen, ohne dass sie eine eigene Erfahrung damit hatten.

Die Metapher „Kraftwerk“ ist eingängig. Das Wort „Mitochondrien“ hat keine Bedeutung. Also merke ich mir als Schüler*in „Kraftwerk“, und mindestens ein Aspekt davon stimmt ja. Diese Metapher hilft mir dabei, mich zu erinnern. Vielleicht erinnere ich mich sogar an ein Bild, das gar nicht aussieht wie ein Kraftwerk. Und dann bin ich auf dem richtigen Weg. Also ja, wir lernen auch mit Metaphern. Das ist übrigens ebenfalls eine Erkenntnis, die zusammen mit den Alltagsvorstellungen entwickelt worden ist. Da gibt es eine ganze Metaphern-„Theorie“.

Das macht jedoch deutlich, dass auch Metaphern immer auf Erfahrungen basieren.

Ja, unser gesamtes Lernen basiert wahrscheinlich auf Erfahrung.

Sie haben eben angesprochen, dass Sie nicht glauben, dass man die Alltagsvorstellungen mit fachlich geklärten Dingen austauschen kann. Ist das bewusst so angelegt, um eben diese Alltagsvorstellungen fruchtbar zu halten?

Die Alltagsvorstellungen überdauern jegliche fachliche Belehrung. Warum soll ich mich belehren lassen, wenn sich das, was ich meine, im Alltag bewährt? Das heißt, die didaktische Rekonstruktion besteht darin, dass ich Alltagsvorstellungen und fachlich geklärte Vorstellungen aufeinander beziehe und daraus das Lernangebot konstruiere. Und nur, wenn ich das mache, wird nachhaltig gelernt. Andernfalls versuche ich etwas überzustülpen, was zwar im Unterricht funktioniert, aber nicht im Alltag. Im Unterricht wird dann zwar gesagt, was die Lehrkraft erwartet, aber nicht, was man selbst glaubt. Das geht sogar so weit, dass ich als Schüler*in eine Antwort für falsch halten kann, sie aber im Test hinschreibe, weil ich weiß, dass meine Lehrkraft das so haben will. Fertig, bumm, aus. Das ist also ein Verkehren von Lernen. Die Papageien-Methode, auf Deutsch gesagt.

Das heißt, wenn wir die Alltagsvorstellungen ernst nehmen, können wir sie fruchtbar machen und dadurch in der Reflexion mit ihnen zu wirksamem Lernen kommen?

Ja.

Lehrer als Begleiter im Lernprozess

Spannend! Was müssten Lehrkräfte anders denken, um dieses Konzept in ihrem Unterricht anzuwenden?

Die Einstellung von Lehrkräften, die noch nicht akzeptieren wollen, dass Alltagsvorstellungen wichtig sind, ist die: „Wenn ich das klar und strukturiert darstelle, dann muss das begriffen werden.“ Doch es wird in dem Fall eben nicht begriffen, sondern reproduziert. Und da sagte schon Johann Gottfried Herder, der übrigens auch Schulleiter war, sinngemäß: Meine Worte kann der Lernende nicht erfassen, wenn sie nicht zu seinen Worten werden. Und das ist im Grunde das, was bei den didaktischen Rekonstruktionen passiert, dass also die fachlichen Aussagen zu den Aussagen der Lernenden werden können, wenn sie sie mit ihren eigenen Vorstellungen konfrontieren, aufnehmen und dadurch zu eigenen Vorstellungen machen.

Das heißt, auch die Rolle der Lehrkraft verändert sich. Sie ist nicht mehr nur die Erklärende, die „Weltwissende“, sondern sie ist vielmehr Begleiterin im Prozess der Aneignung von Welt(wissen).

Das ist notwendig, denn Lehren, ohne dass gelernt wird, ist vergeblich. Das Lernen ist das Wichtige. Lehren ist ebenfalls wichtig, aber wenn es nicht zum Lernen führt, ist es fruchtlos.

Ein wunderbarer Schlusssatz, vielen Dank.

Ich danke Ihnen.

Beitrag teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Pinterest
XING
WhatsApp
Email

Ähnliche Beiträge

LE-SPIKE Essential-1920x1080px
Gesponserte Inhalte
9. April, 2024
Unsere Welt verändert sich schnell, fast täglich gibt es technische Innovationen. Die Art und Weise, wie Kinder lernen und wichtige Fähigkeiten erwerben, muss mit diesen Veränderungen Schritt halten. Wir brauchen einen Unterricht, der die Kinder optimal auf die Welt von morgen vorbereitet und die lebenslange Lust am Lernen weckt.
Header_MZ Blogbeitrag_04-2023 (17)
25. März, 2024
Trotz einer Reihe internationaler Programme wie der Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (2005–2014) oder dem UNESCO-Weltaktionsprogramm BNE“ (2015–2019) sind Inhalte aus dem Kontext Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) noch nicht an allen Stellen in der deutschen Schulbildung und insbesondere im Fachunterricht Mathematik angekommen.
Version 2
29. Januar, 2024
Energieträger sind für die Wärmeerzeugung in Gebäuden unerlässlich und werden oft in Form von fossilen Brennstoffen wie Gas, Öl, Holz oder Kohle bereitgestellt. Einerseits ist aufgrund ihres begrenzten natürlichen Vorkommens ein sorgsamer Umgang mit diesen Ressourcen geboten. Andererseits entsteht durch die Verbrennung fossiler Energieträger das Treibhausgas CO2, das als Katalysator des Klimawandels gilt.
Header_MZ Blogbeitrag_04-2023 (6)
16. Januar, 2024
Es gehört zu den Kernaufgaben einer Lehrkraft, Schüler*innen Rückmeldungen auf ihre Lernleistung zu geben – in Form von Noten oder mit mündlichem oder schriftlichem Feedback. Bei der Methode des Peer Assessments wird diese Aufgabe von den Lernenden selbst übernommen: Sie geben sich wechselseitig Rückmeldung auf ihre erbrachte Leistung. Ob sie davon profitieren können, untersucht das Forscherteam Double, McGrane und Hopfenbeck in einer 2020 erschienenen Metaanalyse. Sie prüfen dabei zudem, wie die Methode effektiv im Unterricht umgesetzt werden kann.
Header_MZ Blogbeitrag_04-2023 (5)
11. Januar, 2024
Anlässlich des Internationalen Tags gegen Rassismus am 21. März 2023 veröffentlichte das Thüringer Bildungsministerium eine Handreichung für Thüringer Schulen zur Anwendung der Jenaer Erklärung gegen Rassismus im Unterricht. Die Publikation der Autoren Karl Porges und Uwe Hoßfeld und der AG Biologiedidaktik der Friedrich-Schiller-Universität Jena ist ein konkretes inhaltliches Angebot für rassismuskritische Bildungsarbeit an Thüringer Schulen.
Header_MZ Blogbeitrag_04-2023 (2)
20. Dezember, 2023
Der Einsatz von Escape Games oder EduBreakouts im Unterricht ist heute bei Weitem keine so exotische Methode mehr wie noch vor ein paar Jahren. Mittlerweile gibt es zahlreiche Formate dieses kreativen Konzepts und alle sorgen für motivierende Abwechslung im Klassenzimmer. Auch aus meinem Unterricht sind Escape Games kaum noch wegzudenken und meine Schüler*innen fordern diese regelmäßig mit den Worten ein: „Herr Bendlow, wann machen wir mal wieder ein Escape Game?“
Header_Entdeckt_04-2023
20. Dezember, 2023
Vor dem Hintergrund einer immer komplexer werdenden und zunehmend technisierten Gesellschaft werden Medienbildung und digitales Lernen auch im Bildungsbereich unabdingbar. Es gibt mehr und mehr hoch spezialisierte Berufsbilder, für die die sogenannten 21st century skills wie digitale Affinität, vernetztes Denken und Problemlösefähigkeit eine zentrale Rolle spielen. Gleichzeitig ist im Hinblick auf aktuelle gesamtgesellschaftliche Themen und Probleme wie den Klimawandel ein interdisziplinäres Denken und Arbeiten notwendig geworden. Ziel der Schulen muss es dabei sein, genau hier anzusetzen, um Schüler*innen auf neue Herausforderungen in der Berufs- und Lebenswelt vorzubereiten.
ORP_TeachEconomy_Header1_20220422
Gesponserte Inhalte
6. Dezember, 2023
Die Online-Plattform www.teacheconomy.de stellt eine Fülle lehrplanrelevanter Unterrichtseinheiten mit digitalen Ergänzungen bereit, die zeitgemäßen Wirtschaftsunterricht in Gesamtschulen und Gymnasien der Sekundarstufen I und II unterstützen. Ein neues Highlight ist die Filmreihe zur Berufsorientierung, bei der TikTokerin Selma einen Blick hinter die Kulissen von Digitalisierung, New Work und Co. wirft.
Header_Entdeckt_02-2023 (18)
30. November, 2023
Die Versauerung der Ozeane hat dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung zufolge einen erheblichen Einfluss auf marine Lebensformen, insbesondere auf jene, die ihre Skelette und Schalen aus Kalk aufbauen (zum Beispiel Korallen, Muscheln, Schnecken, Kalkalgen). Diese Organismen spielen eine essenzielle Rolle im marinen Ökosystem. Der niedrigere pH-Wert des sauren Wassers beeinträchtigt jedoch ihr Wachstum und kann das gesamte Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen.
Header_Entdeckt_02-2023 (19)
30. November, 2023
Die Anschaffung von Unterrichtsmitteln ist oftmals eine kostspielige Angelegenheit. Auf der Suche nach Alternativen, die zudem die Selbstständigkeit, Kreativität und das handwerkliche Geschick von Kindern fördern, lohnt sich der Blick über Ländergrenzen hinweg. So zeigt der informelle Sektor in den wirtschaftlich ärmeren Ländern unserer Erde Improvisationstalente und einen innovativen Reichtum, den man in der formalen Schule westlicher Staaten oft vergeblich sucht. Not macht erfinderisch – sie provoziert Einfälle auch für scheinbare Abfälle, und es gibt offenbar nichts, was sich nicht durch Recycling herstellen lässt.
Raumfahrtmedizin_ORP
Gesponserte Inhalte
12. Oktober, 2023
Das Schulmaterial der Deutschen Raumfahrtagentur im DLR und Klett MINT erklärt anschaulich, wie Astronautinnen und Astronauten die Veränderungen ihres Körpers erleben, wenn sie ins Weltall reisen und welchen Nutzen Ihre Erfahrungen für uns auf der Erde haben.
coocazoo_Blog_Schlau_mit_Wow_neu
Gesponserte Inhalte
20. September, 2023
Die kompakte, fächerübergreifende Unterrichtsreihe für die 3. und 4. Klasse aus dem Bereich Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) unterstützt Ihre Schüler:innen, fundierte Entscheidungen bei der Rettung unseres Planeten zu treffen. Am Beispiel von Plastikmüll lernen sie Zusammenhänge kennen und verstehen.