Frei schwebend vor dem schwarzen Hintergrund des Weltalls leuchtet die blaue Weltkugel: „The Blue Marble“, aufgenommen am 7. Dezember 1972 etwa 29.000 Kilometer entfernt von der Erde von der Crew der Apollo 17 auf dem Weg zum Mond. Die analoge Hasselblad-Mittelformatkamera mit f-2,8/80 mm Festbrennweite von Zeiss bannt die ganze Erde auf ein Bild und zeigt dabei fast ganz Afrika, den Atlantik und den Indischen Ozean mit einem entstehenden Taifun über Indien.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Ralf Seppelt
Es ist eine legendäre Aufnahme, die Bestandteil des globalen Kulturguts geworden ist. Eine Ikone, ein Bild, das 50 Jahre alt ist und Generationen geprägt hat und immer noch prägt. Vielleicht liegt das auch daran, dass 1972 das Geburtsjahr einer globalen Umweltbewegung war: Der Club of Rome warnte in seinem Bericht „Grenzen des Wachstums“ vor einer auf materielles Wachstum ausgelegten Welt. Heute wissen wir, dass diese ersten Computersimulationen, die zeigen, dass die uns zur Verfügung stehenden Ressourcen endlich sind, erstaunlich plausibel und genau waren.
Die globale Gesellschaft wird reicher und gesünder – die Umwelt fragiler
Rund vier Milliarden Menschen lebten 1972 auf der Welt. Heute sind es doppelt so viele, acht Milliarden. Das globale Bruttosozialprodukt stieg von 4 auf 96 Billionen US-Dollar und die CO2-Emissionen sind von 20 auf 40 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalente gestiegen. Der Earth Overshoot Day, der Tag, an dem die natürlichen Kapazitäten der Erde für die Produktion von nach wachsenden Ressourcen oder des natürlichen Abbaus von Emissionen für das Jahr erschöpft sind, wanderte vom 14. Dezember auf den 28. Juli. Seit 1972 wuchs unsere globale Gesellschaft, wurde reicher und dabei auch gesünder – was sich unter anderem an der deutlich niedrigeren Kindersterblichkeit festmachen lässt. Das Ganze auf Kosten einer fragilen, aber auch sehr diversen Umwelt und einer Vielzahl der Ressourcen der blauen Kugel.
Ein Bild steht für Begrenztheit, Diversität und Veränderungen
Obwohl seitdem kein Mensch mehr ein solches Foto selbst geschossen hat, erscheint uns dieses Bild als eine Selbstverständlichkeit. Google Earth präsentiert es im Startbildschirm und erlaubt das Hineinzoomen zu jedem Punkt der Erde. Wir können – so makaber es klingt – live dabei sein, wenn Polareis und Hochgebirgsgletscher schmelzen und verschwinden. Satelliten erkennen, wie Grundwasserspiegel durch Beregnungsfeldbau in Indien über Jahrzehnte hinweg in unerreichbare Tiefen sinken und wie die Wasserstände des Lake Mead unaufhaltsam fallen. Wir haben die Gelegenheit, die fortschreitende Fragmentierung des Regenwaldes auf dem eigenen Laptop zu verfolgen. Wir können nachvollziehen, wie sich Palmölplantagen in Indonesien ausbreiten, wie Staub und Dreck in Metropolen wie Peking oder Delhi zu Gesundheitsproblemen führen. All diese Informationen kann sich jeder Mensch mit ein paar geschickt formulierten Suchanfragen auf den eigenen Rechner holen. Mit ein paar Suchanfragen erkennt man,
wie erstaunlich divers die Welt ist – nicht nur im Sinne der schwindenden Artenvielfalt, sondern auch in Bezug auf das Zusammenleben von uns Menschen. So illustriert das Projekt Dollar Street, wie sich Lebensbedingungen unterscheiden.
Immer noch gibt es viele Länder auf der Welt, in denen die Bevölkerung mit weniger als 2.000 Kilokalorien pro Tag auskommen muss – das sind 800 Millionen Menschen, die Hunger leiden. Zum Vergleich: Menschen im globalen Norden verbrauchen bis zu 8.000 Kilokalorien täglich. Wenn man also eine Diskussion über Nahrungs- und Ernährungssituationen führt, ist es vor allem eine Frage der Verteilung und des Verbrauchs – nicht der Produktion oder deren Steigerung. Vielleicht ist es also nun an der Zeit, das Bild der Blue Marble anders zu interpretieren: Ja, es zeigt die Begrenztheit des Planeten, es erinnert an die Diversität des Lebens auf ihm, aber es ist auch ein Symbol dafür, wie eng die Verflechtungen und Wechselwirkungen sind. In den vergangenen 50 Jahren ist die Welt informationstechnisch zusammengewachsen, wenn auch sehr ungleich verteilt. 5,2 Milliarden Menschen – davon 93 Prozent in Nordamerika, aber nur 43 Prozent in Afrika – haben Zugang zum Internet und sind in der Lage, die unterschiedlichsten Informationen zusammenzutragen und zu kombinieren.
Technologien bewirken Veränderungen
Könnte es also gelingen, diesen ungeheuren Fortschritt des informationstechnischen Zusammenwachsens – der sicherlich noch nicht abgeschlossen ist – daran auszurichten, die Ressourcen unseres Planeten so zu bewirtschaften, dass wir dem gerecht werden, was sie sind: limitiert und größtenteils Allmendegüter? Lassen Sie uns ein wenig träumen. Könnte man ein Monitoring von Lieferketten implementieren, welches die Warenströme von der Produktion auf einer Farm bis hin zu den Konsument*innen aufzeichnet (Stichwort „Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz“)? Sicherlich nicht für jedes Produkt, für jeden Produzenten und zu jedem Zeitpunkt. Aber die Technologie ist da und damit die Möglichkeit von stichpunkthaften Kontrollen, etwa wie bei Geschwindigkeitskontrollen auf der Autobahn. Auch ist es keine Frage von Jahren mehr, bis eine App nicht nur den Nutri-Score und mögliche Unverträglichkeiten anzeigt, sondern durch die Verknüpfung mit weltweit vorhandenen Bilddatenbanken die Produktionssituation im Herkunftsland. Die unten stehende Abbildung zeigt, wie so etwas aussehen könnte. Könnte man erkennen, wo illegaler Fischfang betrieben wird? Ja, sicher. Mit hochauflösenden Nachtaufnahmen, die eigentlich mal dafür gedacht waren,
Wolken zu erkennen, um Wettervorhersagen zu verbessern, wäre das durchaus möglich. Zusammen mit den Informationen zu deren Finanzierung (70 Prozent der Finanzmittel für den illegalen Fischfang stammen aus sogenannten Steuerparadiesen) ergeben sich da sicherlich interessante Möglichkeiten, um zu intervenieren und zu sanktionieren. Und schließlich könnte man sich auch ausmalen, dass eine Staatengemeinschaft zu dem Schluss kommt, es sei aus Klimaschutzgründen sinnvoll, gemeinsam den Regenwald Brasiliens zu pachten. Sicher, jeder nicht gerodete Quadratmeter bedeutet dann eine jährliche Zahlung von realem Geld an den brasilianischen Staat. Nicht der Konsum eines Kastens Bier ist hier entscheidend, wie das einst eine deutsche Brauerei in einer Werbeaktion der Kundschaft weismachen wollte, sondern die Tatsache, dass die Weltgemeinschaft in der Lage ist, jeden Quadratmeter Regenwald zu kontrollieren. Die Idee ist nicht ganz so aus der Luft gegriffen. Jede Prospektionsfirma für seltene Erden, Öl oder Gas zahlt eine solche Pacht für das Gebiet, in dem sie aktiv ist.
Unbegrenztes materielles Wachstum geht letztlich nicht
Seit 50 Jahren steht „The Blue Marble“ wie kein anderes Bild für die Botschaft, dass wir sorgsam mit unserem sehr fragilen Habitat Erde umgehen müssen. Auch wenn man den Slogan vieler Fridays-for-Future Aktivist*innen schon oft gehört hat. Er bleibt richtig: „Wir haben nur diese eine Erde.“ Es ist die 2022er-Version eines Zitates von Kenneth E. Boulding, dem Umweltberater von John F. Kennedy, der sein Amt bekleidete, lange bevor „The Blue Marble“ auf einer Filmrolle festgehalten wurde: „Jeder, der glaubt, exponentielles Wachstum kann in einer endlichen Welt andauernd weitergehen, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom.“
Prof. Dr. Ralf Seppelt
Prof. Dr. Ralf Seppelt studierte Mathematik
und promovierte im Fach Geoökologie. Am
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
in Leipzig leitet er den Forschungsbereich
„Ökosysteme der Zukunft“ und lehrt an der
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Landschaftsökologie und Ressourcenökonomik.
Literatur-Tipp
Hans Rosling: Factfulness.
Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist.
Ullstein, 400 S., 16,99 Euro, 2019