Warum klettern wir ohne Sauerstoffgerät auf den Mount Everest oder durchsteigen im Winter die Eigernordwand? Warum wollen wir immer schneller laufen, immer höher springen oder eine Kugel immer weiter stoßen? Warum reisen wir zum Nordpol, zum Südpol oder zum Mond? Warum haben die Menschen des Mittelalters gigantische und viel zu große Kirchen gebaut? Es ist nicht leicht, diese Fragen zu beantworten. Rationale Gründe, so etwas zu tun, gibt es nicht. Vielleicht ist es das Erfahren und Hinausschieben der eigenen Grenzen, das den Menschen einen süchtig machenden Kitzel verschafft. Vielleicht ist es auch der Genuss des Ruhms, die oder der Größte, Schnellste, Beste oder Weitestgereiste zu sein.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Heinrich Hemme
Die Mathematik hat ihren eigenen Hochleistungssport: die Jagd auf immer größere Primzahlen! Den Weltrekord hält zurzeit der Amerikaner Patrick Laroche aus Ocala in Florida, der am 7. Dezember 2018 die Primzahl 282.589.933 – 1 entdeckte. Würde man diesen Ausdruck ausmultiplizieren, erhielte man eine Zahl mit 24.862.048 Stellen, und wäre sie hier abgedruckt, nähme sie etwa 7.000 Seiten in Anspruch.
Um was geht es eigentlich?
Primzahlen sind positive ganze Zahlen, die sich nur durch 1 und durch sich selbst ohne Rest teilen lassen. Jede natürliche Zahl ist nun entweder eine Primzahl, wie die 2 oder die 3, oder sie ist ein Produkt aus Primzahlen, wie die 6, die gleich 2 × 3 ist.
Man kann aus Primzahlen also alle anderen ganzen Zahlen zusammenbauen. Darum haben sie in der Mathematik etwa die gleiche Bedeutung wie die chemischen Elemente in der Chemie oder die Elementarteilchen in der Physik. Die ersten Primzahlen sind noch leicht zu finden: 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, 19, 23, 29, 31, … Werden die Zahlen aber größer, wird es immer schwieriger, festzustellen, ob sie zusammengesetzt oder prim sind, und ab etwa hundert- bis zweihundertstelligen Zahlen sind normalerweise selbst die größten Computer der Welt hoffnungslos überfordert.
Entstehung der Mersenneschen Zahlen
Im Jahr 1644 veröffentlichte der französische Theologe, Mathematiker und Musiktheoretiker Pater Marin Mersenne sein Werk Cogitata Physico-Mathematica. Im Jahr 1644 veröffentlichte der französische Theologe, Mathematiker und Musiktheoretiker Pater Marin Mersenne sein Werk Cogitata Physico-Mathematica. Im Vorwort dieses Buches behauptete er, für alle Primzahlen von 2 bis 257 ergäbe der Ausdruck 2p – 1 nur in den Fällen p = 2, 3, 5, 7, 13, 17, 19, 31, 67, 127 und 257 auch wieder eine Primzahl. Man bezeichnet heute deshalb alle Zahlen der Form Mp = 2p – 1 als Mersennesche Zahlen, und falls es sich dabei um Primzahlen handelt, als Mersennesche Primzahlen. War Pater Mersennes Liste vollständig und richtig? Diese Frage sollte die Mathematik die nächsten 303 Jahre beschäftigen.
Die Suche nach den Primzahlen beginnt
Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts hatte man nachgewiesen, dass die Zahlen p = 2 bis 19 aus Mersennes Liste wirklich Primzahlen ergeben. Doch erst 200 Jahre später ging es weiter. Dem Schweizer Mathematiker Leonard Euler gelang es 1772 zu beweisen, dass M31 = 231 – 1 = 2.147.483.647 tatsächlich eine Primzahl ist. Diese zehnstellige Primzahl war für 104 Jahre die größte überhaupt bekannte Primzahl.

Im Jahr 1876 entwickelte der Franzose Édouard Lucas ein Verfahren, mit dem man wesentlich schneller als bis dahin feststellen konnte, ob eine Mersennesche Zahl prim ist. Mit seiner Methode gelang es ihm, zu beweisen, dass die 39-stellige Mersennesche Zahl M127 tatsächlich eine Primzahl ist.
Fehler in Mersennes Liste
Erst 239 Jahre nach der Veröffentlichung von Cogitata Physico-Mathematica, im Jahr 1883, wurde der erste Fehler in Pater Mersennes Liste entdeckt: Es fehlte eine Zahl. Der russische Mathematiker I. M. Pervushin konnte mit Lucas’ Verfahren beweisen, dass M61 eine Primzahl ist.
Zwanzig Jahre später wurde der nächste Fehler gefunden. Auf einem Treffen der American Mathematical Society im Oktober 1903 trat F. N. Cole, als sein Vortrag an die Reihe kam, ohne ein Wort zu sagen an die Tafel und begann den Wert von 267 auszurechnen. Dann zog er sorgfältig 1 ab. Danach rechnete er das Produkt von 193.707.721 × 761.838.257.287 aus. Die beiden Ergebnisse stimmten überein. Zum ersten und einzigen Mal brach das Publikum einer Versammlung der American Mathematical Society in Applaus aus. Cole ging zu seinem Platz zurück, ohne ein Wort gesagt zu haben, und niemand stellte eine Frage.
In den Jahren 1911 und 1914 fand der Amerikaner R. E. Powers zwei weitere in Pater Mersennes Liste fehlende Zahlen: Auch M89 und M107 sind Primzahlen. Einige Jahre später, 1922, gelang es Maurice Kraïtchik zu zeigen, dass M257, die größte in Mersennes Liste vorkommende Zahl, zusammengesetzt ist. Es dauerte nun noch bis zum Jahr 1947, bis alle 55 Primzahlen von 2 bis 257 auf ihre Teilbarkeit hin überprüft waren. Dabei tauchten jedoch keine weiteren Fehler in Mersennes Liste auf.
Neue Primzahlrekorde werden gefunden
Damit wäre man nun eigentlich fertig gewesen, aber der Ehrgeiz der Mathematiker war entfacht. Jetzt ging es nicht mehr um die Überprüfung einer Zahlenliste, sondern um neue Primzahlrekorde, und dafür waren die Mersenneschen Zahlen wegen des Lucasschen Algorithmus die besten Kandidaten. Außerdem hatten die Mathematiker ein neues Spielzeug bekommen, mit dem sich mühsame Rechnerei schnell erledigen ließ: den Computer. Zwischen 1952 und 1996 wurden mit seiner Hilfe die Mersenneschen Primzahlen M512, M607, M1.279, M2.203, M2.281, M3.217, M4.253, M4.423, M9.689, M9.941, M11.213, M19.937, M21.701, M23.209, M44.497, M86.243, M110.503, M132.049, M216.091, M756.839, M859.433 und M1.257.787 entdeckt. Als D. B. Gillies von der Universität Illinois 1963 die 3.376-stellige Primzahl M11.213 fand, war das mathematische Institut der Universität so stolz auf die Entdeckung, dass diese Primzahl viele Jahre lang auf die Briefumschläge des Instituts gestempelt wurde.
Die Great Internet Mersenne Prime Search
Im Jahr 1995 trat George Woltman, ein hervorragender Programmierer und Organisator, auf den Plan. Er sagte sich: „Über das Internet sind Millionen von Computern miteinander verbunden, und die meisten dieser Computer haben noch sehr viel freie Rechenkapazität. Warum also sollte man diese Kapazitäten nicht für die Suche nach Mersenneschen Primzahlen nutzen?“ Dann fasste er alle Primzahlendatenbänke zu einer einzigen zusammen, schrieb ein exzellentes Suchprogramm für Mersennesche Primzahlen und stellte beides im Internet zur freien Verfügung. Damit war die GIMPS, die Great Internet Mersenne Prime Search, ins Leben gerufen. Seitdem haben sich einige Hunderttausend Menschen aus der ganzen Welt mit ihren Computern an der Suche beteiligt, und es sind auch schon etliche Früchte geerntet und siebzehn weitere Mersennesche Primzahlen gefunden worden.
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