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Schulen im Zeitalter permanenter Krisen

Fortwährende komplexe Krisenszenarien erfordern von Lehrkräften und Schulen eine stärkere und fächerübergreifende Handlungsorientierung bei der Begleitung von Schüler*innen in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt. Lehrkräfte haben hier eine zentrale Vorbildfunktion, die nicht zuletzt einen konstruktiven und reflektierten Umgang mit den eigenen Belastungen durch kleine alltägliche bis hin zu großen globalen Krisen erfordert.

Ein Beitrag von Lea Dohm, Dr. Felix Peter, Prof. Dr. Claudia Calvano und Prof. Dr. Julia Asbrand 

Klimakrise, Pandemie, der Angriffskrieg gegen die Ukraine, … – viele Menschen fühlen sich mit Blick auf die Krisen in der Welt stark belastet. Zahlreiche Konfliktfelder, insbesondere die akuten ökologischen Krisen wie Klima und Artensterben, bringen dringende Handlungsnotwendigkeiten mit sich und werden uns in den nächsten Jahrzehnten fortlaufend begleiten.

Zum Wesen von Krisen

Während lokale Katastrophenereignisse wie das Hochwasser im Ahrtal zeitlich meistens begrenzt sind, erweisen sich die aktuellen globalen Krisen als länger andauernd und komplexer. Ursachen, Folgen, Verlauf und Lösungen erscheinen vielen Menschen ungewiss, die Auseinandersetzung damit kann erschüttern und überfordern. Insbesondere junge Menschen sind belastet. Die neue Normalität scheint eine „Krisenpermanenz“ zu sein, gekennzeichnet von nur schwer oder gar nicht enden wollenden Phänomenen wie Erderhitzung, Artensterben, neuen Infektionskrankheiten, bewaffneten Konflikten und Massenflucht aus Krisengebieten. Diese neue, krisenhafte und unsichere Normalität trifft nun auf die Schule, die sowohl als bedeutende gesellschaftliche Einrichtung als auch als konkreter sozialer Ort damit umgehen muss.

Die Abbildung von Krisen im Schulalltag

Als erste gemeinschaftliche Institution, die alle Menschen verpflichtend besuchen müssen, kommt der Schule gerade in gesellschaftlichen Umbruchsituationen eine besondere Bedeutung zu. Sie wird immer wieder aufs Neue herausgefordert, auf schulinterne Krisenereignisse wie auch solche im Umfeld, in der Gesellschaft oder auf der Welt eine angemessene Reaktion zu finden, die alle Schulangehörigen mitnimmt. Doch diese erleben Krisen oft unterschiedlich. So haben jüngst die Coronapandemie und die Diskussionen um die Maskenpflicht gezeigt, wie schwer es ist, mit stark unterschiedlichen Lagebewertungen umzugehen. Die Pandemie als globale gesellschaftliche Krise hat viele lokale schulische Krisen ausgelöst, die bis heute nachwirken. 

Der Umgang mit Krisen sollte fortlaufend und fächerübergreifend Eingang in den Schulalltag finden

 Mit Blick auf die großen ökologischen Krisen kommt für den Schulalltag die Herausforderung hinzu, die Prävention zukünftiger Konflikte und Krisen ebenso wie die erfolgreiche Verarbeitung der damit verbundenen körperlichen und psychischen Belastungen angemessen zu priorisieren. Eine große und wichtige Aufgabe bei laufendem Schulbetrieb! Wichtig nicht nur hinsichtlich der Sicherung unserer Lebensgrundlagen, sondern auch aus psychologischen Gründen: Gesellschaftliches Engagement von Erwachsenen erhöht das Sicherheitserleben und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen und hat zudem erheblichen Vorbildcharakter für deren künftiges Handeln.

Gesunde Rahmenbedingungen sind Grundvoraussetzung für resiliente Schulen

Krisen verursachen zusätzlichen Stress – bei ohnehin schon hoher Belastung. So sind Schulleitungen und Lehrkräfte durch einen sehr komplexen Beruf gefordert, während Kinder und Jugendliche vielfältige Entwicklungsaufgaben und Alltagsstressoren zu bewältigen haben und gleichzeitig auf weniger etablierte Ressourcen und Bewältigungsmöglichkeiten zurückgreifen können als Erwachsene. Für alle Schulmitglieder sind Stressreaktionen wie Angespanntheit, innere Unruhe oder Schlafschwierigkeiten möglich, oft verbunden mit einer erhöhten psychischen Belastung. Um Schulen in Zeiten von Krisenpermanenz resilienter zu gestalten und langfristig krisensicherer zu machen, benötigen Lehrkräfte Kompetenzen dafür, mit Belastungen von Kindern und Jugendlichen und den Sorgen der Eltern umgehen zu können. Dafür müssen sie unter anderem gestärkt werden, emotionale Reaktionen konstruktiv aufzufangen – das ist insbesondere dann relevant, wenn sie selbst von einer Krise mitbetroffen sind. Ihr Verhalten dient Schüler*innen als zentraler Orientierungspunkt: „Wie gehst du damit um?“ – „Ist es normal, was ich fühle?“ Und was ist ein gutes Maß zwischen der Wiederherstellung Orientierung gebender Routinen und der notwendigen gemeinsamen Verarbeitung des Erlebten?

Eigenes und kollektives Handeln als zentrale Komponenten von Resilien

Doch nicht nur solches „Gesundheitswissen“ ist wichtig für eine resiliente Schule. Es braucht auch Rahmenbedingungen, die in Krisensituationen auffangen, Raum geben, Alternativen anbieten. Ins Handeln zu kommen stärkt so in Krisen das Erleben von eigener und/oder gemeinsamer Wirksamkeit in der Gruppe – ein zentraler Aspekt zur psychischen Gesunderhaltung. Beherztes eigenes und bestenfalls auch kollektives Handeln kann sowohl Lehrkräften als auch Schüler*innen im Umgang mit Krisen und Belastungen helfen. Dies bedeutet, permanente Krisen nicht nur fächerübergreifend zu einem inhaltlichen Schwerpunkt in der Schule zu machen, sondern auch zu einem aktiven Handlungsschwerpunkt von Schulmitgliedern in Schule und im schulischen Umfeld. Aktuell sind globale Krisen nicht nur sehr selten in den Unterrichtsinhalten, sondern es gibt auch kaum Möglichkeiten für junge Menschen, im geschützten Rahmen der Schule Selbstwirksamkeit in der Auseinandersetzung mit der Welt zu erfahren. Lehrkräfte sind somit gefordert, sowohl das fachliche Wissen als auch das Entwickeln und Erproben von Lösungen fortlaufend und fächerübergreifend in den Schulalltag und Unterricht einzubauen. Dabei könnte eine wegweisende Brücke zwischen natur- und sozialwissenschaftlichen Fächern geschlagen werden. Warum nicht den gesamten Unterricht ganzheitlich auf Nachhaltigkeit ausrichten und somit die Welt, die wir für eine Lösung der ökologischen Krisen brauchen, vorab schon im Bildungskosmos Schule abbilden?

Literaturtipps

Hickman, C., Marks, E. et al. (2021). Climate anxiety in children and youngpeople and their beliefs about government responses to climate change: a global survey. The Lancet Planetary Health. Vol. 5, Iss. 12, e863–e873 

 

Psychologists/Psychotherapists for Future Germany (2022). Mit Schüler:innen über die Klimakrise reden. Tipps für Lehrkräfte. 

Psychologists/Psychotherapists for Future Germany (2022). Mit Kindern über die Klimakrise reden.

Ravens-Sieberer, U. et al. (2022). Child and adolescent mental health during the COVID-19 pandemic: results of the three-wave longitudinal COPSY study. Journal of Adolescent Health, 71(5), 570–578.

Ulrich, B. (2022, 24. März). Krisen: Sieben auf einen Streich. DIE ZEIT, Ausgabe 13, S. 4

Fürsorge und Selbstfürsorge ernst nehmen

Als Team arbeiten wir, die Autorinnen und der Autor dieses Textes, daran, dass bald ein Praxisbuch zur Verfügung steht, das Schulen und Lehrkräften im „Umgang mit gesellschaftlichen Krisen im Schulalltag“ – so der Arbeitstitel – mehr Sicherheit vermitteln soll. Wir wollen mit dem Buch, das voraussichtlich im Herbst 2023 erscheint, unter anderem zeigen, dass es allein mit Selbstfürsorge und individuellem Resilienztraining heute nicht mehr getan ist, um der Fürsorge für junge Menschen, für uns selbst und unsere Welt gerecht zu werden: Die krisenhaften Zeiten fordern von uns allen eine ständige Weiterentwicklung – auch mit Blick auf die nachhaltige Gestaltung der Strukturen, die unser Leben mitbestimmen. Gemeinsam kann es gerade im Kontext Schule gelingen, einen wichtigen Beitrag für die Sicherung der Lebensgrundlagen zu leisten und die Zukunft in verantwortungsbewusste und kundige Hände zu übergeben

Lea Dohm

Lea Dohm ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet bei KLUG, der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit.

Dr. Felix Peter

Dr. Felix Peter ist Schulpsychologe in Sachsen-Anhalt

Prof. Dr. Claudia Calvano

Prof. Dr. Claudia Calvano ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Universitätsprofessorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters am Institut für Psychologie der Universität zu Kiel. 

Prof. Dr. Julia Asbrand

Prof. Dr. Julia Asbrand ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Universitätsprofessorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Universität Jena

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