Das Pariser Klimaziel, die globale Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu beschränken, könnte noch erreicht werden. Aber es ist eine Herkulesaufgabe, für die wir den Ausbau der erneuerbaren Energien vervielfachen müssen. Und wir brauchen sogenannten grünen Wasserstoff, der mithilfe von regenerativem Strom hergestellt wird. Die Technologie spielt eine Schlüsselrolle auf dem Weg zur Klimaneutralität, die wir weltweit bis Mitte des Jahrhunderts erreichen wollen.
Ein Beitrag von Monika Rößiger
Deutschland möchte schon bis 2045 weitestgehend frei von Kohlendioxid bzw. Treibhausgas-Emissionen sein. Außerdem möchte die Europäische Union seit dem russischen Überfall auf die Ukraine so bald wie möglich unabhängig von Rohstoffen aus Russland sein. Das alles erfordert schnelles Handeln seitens der politisch Verantwortlichen in Regierungen und Parlamenten. Und es bedeutet einen tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel. Grüner Wasserstoff ist dafür unverzichtbar, weil er sehr flexibel einsetzbar ist. Er dient als Energieträger, als Speichermedium und als Grundstoff für die (Chemie-)Industrie. Doch er allein kann nicht der Heilsbringer in einer schwierigen Lage sein, in die sich die Industrienationen durch jahrzehntelanges Zögern und Zaudern in Sachen Klimaschutz selbst hineinmanövriert haben.
Was bedeutet grüner Wasserstoff?
Wasserstoff wird schon seit Langem in der Industrie verwendet und üblicherweise auf der Basis von Erdgas hergestellt. Dabei handelt es sich also um fossilen oder „grauen“ Wasserstoff. „Grün“ nennt man den Wasserstoff hingegen, wenn er aus Wasser mithilfe von Solar- oder Windstrom per Elektrolyse hergestellt wird. Das geschieht in einem Elektrolyseur, einer technischen Anlage mit einem Wasserbad, an das eine elektrische Spannung angelegt wird. Bei diesem Vorgang, auch „Power to Gas“ genannt, wird Wasser (chemische Formel: H2O) in seine Bestandteile Sauerstoff (O2) und Wasserstoff (H2) zerlegt. Das auf diese Weise hergestellte Wasserstoffgas ist CO2-neutral und somit nicht klimaschädlich. Es lässt sich auf verschiedene Arten einsetzen und weiterverarbeiten. Nicht alle sind aus energetischer Sicht empfehlenswert. Wichtig ist jedoch, dass der grüne Wasserstoff uns die Möglichkeit gibt, den in ihm gespeicherten Ökostrom (wenn auch mit Verlusten) in andere Wirtschaftsbereiche hineinzutragen und diese dadurch miteinander zu verknüpfen („Sektorenkopplung“). So bildet er eine Brücke von der Stromerzeugung zur Mobilität, Industrie und eventuell auch zur Wärmeerzeugung (ggf. als Reserve für die Rückverstromung).
Nutzungsmöglichkeiten von grünem Wasserstoff
Der per Elektrolyse hergestellte Wasserstoff kann für eine Wasserstofftankstelle verwendet oder im Erdgasnetz gespeichert werden. Er kann am Ort der Erzeugung in Druckspeichern gelagert oder woandershin transportiert werden. Hierbei beginnen aber auch schon die ersten Einschränkungen, denn es gibt zwar verschiedene Möglichkeiten, aber bislang noch keine Ideallösung. Die derzeit gängigsten Formen sind der Transport im gasförmigen oder im flüssigen Zustand. Als sogenanntes Cryogas wird Wasserstoff bei −253 Grad flüssig. Die Verflüssigung ist jedoch energieaufwendig, sodass sich dieser Prozess am ehesten lohnt, wenn man den Wasserstoff später auch im flüssigen Aggregatzustand nutzen will. Verwendet man Wasserstoff in Kombination mit einer Brennstoffzelle, zum Beispiel in einem Lastkraftwagen oder Omnibus, so generiert man auf diese Weise die Antriebsenergie für Fahrzeuge, die mit Elektromotor(en) betrieben werden. In der Brennstoffzelle läuft der Prozess der Elektrolyse vom Prinzip her umkehrt. Dabei entstehen neben Strom auch Wasser und Wärme. Wasserstoff kann zudem in einem Blockheizkraftwerk („H2-ready“) rückverstromt werden. Das heißt, er wird anstelle von Erdgas verbrannt, wodurch Strom und Wärme erzeugt werden. Diese Methode ist natürlich mit Umwandlungsverlusten verbunden, eröffnet uns auf der anderen Seite aber den Weg, einen CO2-freien Energieträger in der Reserve zu haben für die Zeit, in der wir über wenig Sonnen- und Windstrom verfügen können. Zudem kann das grüne Gas zu anderen Grundstoffen weiterverarbeitet werden, zum Beispiel indem man es durch Zugabe von Kohlendioxid in synthetisches Methan umwandelt. Wenn dieses CO2 aus der Atmosphäre bzw. Luft entnommen wird, gilt das daraus resultierende Methan als „klimaneutral“. Schließlich wird dafür kein fossiler Energieträger wie Kohle, Erdöl oder Erdgas verfeuert. Das ist auch der Fall, wenn man aus Wasserstoff oder synthetischem Methan weitere Stoffe wie Methanol oder Ammoniak erzeugt. Das sind wichtige Basisprodukte für die Industrie, die dann ebenfalls als „grün“ gelten.
Überschüssigen Ökostrom speichern und Netz entlasten
Die Herstellung von grünem Wasserstoff ist vor allem dann sinnvoll, wenn mehr Strom aus erneuerbaren Energiequellen zur Verfügung steht, als das Stromnetz aufnehmen kann. Im windreichen Schleswig-Holstein kommt das sehr oft vor, und auch in Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen ist dieses Szenario nicht selten – was bislang meist dazu führt, dass Windräder abgeschaltet werden müssen, um das Netz stabil halten zu können. In so einem Fall wäre es besser, den potenziell möglichen Windstrom zu nutzen, ohne dass er das Stromnetz belastet – und dafür eignet sich ein Elektrolyseur bestens. Die Umwandlung von Strom in Wasserstoff ist jedoch – wie jede energetische Umwandlung – mit Verlusten verbunden. Aus Gründen der Effizienz sollte die Wasserspaltung per Elektrolyse deshalb vorwiegend dann eingesetzt werden, wenn der Strom nicht direkt genutzt werden kann. Die direkte Nutzung von Ökostrom ist auf jeden Fall der energetisch beste Weg.
Buch
Tipp
Die Wasserstoff-Wende
Monika Rößiger: Die Wasserstoff-Wende. So funktioniert die Energie der Zukunft. Edition Körber, 220 S., 20 Euro, erscheint im Juli 2022
Grüner Wasserstoff in der Mobilität
Dagegen eignet sich der rein batterieelektrische Antrieb für kleinere Laster oder Transporter im lokalen Verteilverkehr sehr wohl, und solche Fahrzeuge sind ja bereits im Einsatz. Aber für die großen und schweren Lkw und Sattelschlepper, die Waren quer durch Deutschland und Europa fahren, macht eine rein batteriegetriebene E-Mobilität keinen Sinn (außer auf den wenigen Strecken mit Oberleitungen). Sie brauchen zusätzlich Wasserstoff und Brennstoffzellen. Einige Hersteller entwickeln und testen auch hierzulande die ersten Lkw mit Brennstoffzellenantrieb; doch die Schweiz hat sie als Erstes auf die Straße gebracht. Rund 50 Lkw verkehren dort seit dem Jahr 2021, in den kommenden Jahren soll die Zahl auf mindestens 1.000 steigen.
Der Personenzug Coradia iLint ist weltweit der erste Wasserstoffzug, der mittlerweile in Serie gefertigt wird © hpgruesen – Pixabay
Was den Personenverkehr per Bahn angeht, so gilt auch hier: erst die Elektrifizierung, dann der Wasserstoff. Zwar sind die Hauptstrecken bei uns längst auf Strom umgestellt, aber es gibt noch viele Nebenstrecken im ländlichen Raum, wo das nicht so ist und wo es aus Kostengründen auch nicht immer empfehlenswert ist. Auf kürzeren Strecken, vor allem im Regionalverkehr, werden künftig wohl Akkuzüge eingesetzt, die gerade in der Erprobung sind. Auf der Langstrecke jedoch könnte auch in diesem Fall Wasserstoff eine gute Lösung sein. Bekannt ist der Personenzug Coradia iLint, der im niedersächsischen Salzgitter inzwischen in Serie gefertigt wird, nachdem zwei Prototypen auf der Strecke von Cuxhaven nach Buxtehude ihre rund eineinhalb Jahre Probezeit erfolgreich absolviert haben.
Emissionen verringern in Schifffahrt und Luftverkehr
Was Schiffe und Flugzeuge angeht, wird ebenfalls der batterieelektrische Antrieb eine wichtige Rolle spielen, aber auch hier gelten die üblichen Grenzen Gewicht und Leistung. Erste Elektrofähren und kleine Regionalflugzeuge gibt es schon und wird es in Zukunft mehr geben. Die große Schwierigkeit bleibt jedoch die Langstrecke, die Verbindung zwischen Kontinenten und der Transport schwerer Lasten, sowohl im Schiffs- als auch im Flugverkehr. Wie da grüner Wasserstoff oder seine Derivate (grünes Methanol oder grüner Ammoniak) helfen können, ist Gegenstand intensivster Forschung und Entwicklung. Auch sogenannte E-Fuels spielen dabei eine Rolle, sie sind jedoch mit beträchtlichen Umwandlungsverlusten behaftet. Trotz aller Schwierigkeiten hat der europäische Luftfahrtkonzern Airbus sich als Erster mit der Ankündigung aus der Deckung getraut, im Jahr 2035 eine Passagiermaschine auf den Markt zu bringen, die mithilfe von Wasserstoff frei von CO2-Emissionen sein soll. (Allerdings wäre sie selbst dann nicht frei von anderen Emissionen, darunter Wasserdampf, der in der üblichen Reiseflughöhe ebenfalls klimaschädlich ist.)
Grüner Wasserstoff in der Industrie
Auch in der Industrie lassen sich bei Weitem nicht alle Prozesse elektrifizieren, dort soll grüner Wasserstoff vorrangig zum Einsatz kommen; speziell in der Stahlund Kupferproduktion, bei der Zementherstellung und in der Chemieindustrie. Die Industrie verwendet Wasserstoff seit Jahrzehnten und hat deshalb große Erfahrung im Umgang mit dem Gas. Bislang wird der industriell verwendete Wasserstoff jedoch wie schon erwähnt mithilfe von fossiler Energie hergestellt. Das zeigt aber auch: In diesem Bereich steckt ein großer Hebel für den Klimaschutz. Somit ergibt sich ein riesiges Einsparpotenzial für CO2-Emissionen, wenn der industriell benötigte Wasserstoff künftig „fossilfrei“ produziert wird.
Fazit
Mit seiner Vielseitigkeit kann grüner Wasserstoff also die Brücke zwischen den verschiedenen Sektoren bilden. Alles zusammen genommen bedeutet sein Einsatz eine gute Grundlage für die Entwicklung innovativer Technologien, die künftig im In- und Ausland zur Wertschöpfung beitragen werden. Es wird jedoch nicht ohne Energiesparen und bessere Effizienz in allen Bereichen gehen; zudem brauchen wir eine konsequente Einführung der Kreislaufwirtschaft. Und wir alle sollten uns fragen, ob wir nicht ohnehin zur Suffizienz übergehen sollten, nach dem altbekannten Motto: „Weniger ist mehr.“ Dann könnte Deutschland sein Klimaziel besser erreichen – mit mehr Lebensqualität, und ohne sich selbst als Industriestandort aufzugeben.
Beitragsbild | © petrmalinak – Freepik
Monika Rößiger
ist Dipl.- Biologin, Wissenschaftsjournalistin und (Mit-)Autorin
diverser Sachbücher über Wälder, Meere, Wildtiere, Naturschutz. Ihr Was-ist-Was-Band “Das Gehirn” wurde in acht Sprachen übersetzt. Seit einigen Jahren schreibt sie vor allem über die Energiewende und grünen Wasserstoff.