Skip to content

Wie unsere Gedanken entstehen und warum wir sie lesen können

Im Lied heißt es: „Die Gedanken sind frei, kein Mensch kann sie wissen …“. Gilt dies auch noch heute? Oder gelingt es mit modernen Methoden, doch herauszufinden, was uns gerade beschäftigt? Der MINT Zirkel sprach mit dem Hirnforscher Prof. Dr. John-Dylan Haynes über den Stand der Forschung.

Ein Interview mit Prof. Dr. John-Dylan Haynes

MINT Zirkel: Wie beantworten Sie als Hirnforscher die Frage nach dem Zusammenhang von Gehirn und Geist?

Prof. Dr. John-Dylan Haynes: Aus Sicht der modernen Hirnforschung gibt es eine sehr enge, geradezu untrennbare Verbindung zwischen Gehirn und Geist. Man könnte das Gehirn als Trägersubstanz unserer Gedanken verstehen, als das körperliche Medium, in dem unsere Gedanken stattfinden. Man kann das sehr grob mit einer CD vergleichen. Die Musikstücke sind im Rillenmuster auf ihrer Oberfläche codiert, jedes Lied geht mit einem eigenen Muster einher. So ähnlich ist es mit unseren Gedanken und der Hirnaktivität: Jeder Gedanke geht mit einem eigenen, unverwechselbaren Muster der Hirnaktivität einher. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen sind die Grundlage für unsere Assoziationen, wie etwa Hitze – Eis – Schwimmbad – Badehose. Dadurch können die Muster der Hirnprozesse sich immer wieder zu neuen Aktivitäten anstoßen. In dieser Sichtweise ist auch unser geistiges Leben zeitlich begrenzt. Wenn das Gehirn aufhört zu existieren, dann enden auch meine Gedankenwelten.

Wie würde eine neurowissenschaftliche Theorie des Bewusstseins aussehen? Müsste man dafür nicht auch eine Idee vom Zusammenspiel der Neuronen und ihrer Verbindungen haben?!

Ein großes Rätsel beim Zusammenhang von Gehirn und Geist ist, dass unsere Gedanken sich auf eine bestimmte Art und Weise „anfühlen“. Ein Roterlebnis fühlt sich anders an als ein Tonerlebnis, und das wiederum anders als ein Schmerzerlebnis. Aber im Gehirn wird dies alles durch sehr ähnliche Nervenzellen ermöglicht. Wie kann es da zur Vielfalt unseres geistigen Lebens kommen? Für diese Frage hat die Hirnforschung bis heute keine ausreichende Antwort. Es gibt verschiedene Bewusstseinstheorien, aber nicht sehr viele wissenschaftliche Daten, um sie zu stützen. Und es gibt keine vollständige Hirntheorie, die das Zusammenwirken aller 86 Milliarden Nervenzellen des durchschnittlichen menschlichen Gehirns erklären könnte.

Wie genau funktioniert das neurowissenschaftliche Gedankenlesen, bei dessen Entwicklung Sie federführend waren?

Der Begriff der „Gedanken“ ist hier im breiten Sinne zu verstehen, wir meinen damit alle möglichen Varianten unserer Erlebniswelt. Das sind nicht nur sprachliche Gedanken („Ich muss heute noch die Klassenarbeit korrigieren.“), sondern alle übrigen Erlebnisse, wie das Rot der Mohnblume, der scharfe Schmerz nach einem Messerstich oder die Erinnerung an den Strandurlaub.

Der technische Begriff ist „Decodierung mentaler Zustände“. Aus dieser Vielfalt der Gedanken sollte sich prinzipiell alles auslesen lassen, allerdings gibt es leichtere oder schwerere Dinge. So sind sinnliche Wahrnehmungen sehr leicht auszulesen, weil ein sehr großer Teil unseres Gehirns für die Verarbeitung von Sinnesreizen zuständig ist. Schwieriger ist es mit diffusen Gedanken, etwa in Situationen, wo man selbst nicht genau weiß, wie man sich fühlt. Denn der Computer muss zuerst in ein paar Trainingssitzungen lernen, was man gerade gedacht oder gefühlt hat. Und diese Hinweise erhält er von der Person selbst. Wenn jemand aber seine Gedanken- und Gefühlswelt nicht mitteilen kann, kann der Computer dies auch nicht richtig lernen.

Kann man Gedanken tatsächlich lesen?

Ist das Brain-Reading in einem strengen Sinne eigentlich gar kein Gedankenlesen, sondern eher ein Gedanken-Wiedererkennen?

Der Begriff „Gedankenlesen“ hat sich leider etabliert, mit „Lesen“ haben unsere Verfahren sehr wenig zu tun. Das würde voraussetzen, dass wir die Sprache des Gehirns verstanden hätten. Davon kann nicht die Rede sein. Niemand kann derzeit mit dem bloßen Auge auf eine Hirnaktivitätskarte schauen und erkennen, was jemand denkt. Es ist eher wie das Knacken eines Codes mithilfe statistischer Verfahren aus der KI. Mathematische Modelle spielen dabei eine wichtige Rolle. Damit ist es möglich, die Gedanken wieder zu erkennen, die man schon mal gemessen hat, sowie neue Gedanken, die der Proband bisher noch nie hatte. Trotzdem sind wir weit davon entfernt, beliebige Gedanken aus dem Gehirn zu decodieren.

Die beiden Körperkarten (li. somatosensorische, re. motorische) veranschaulichen den Umfang, den die Körperregionen im Gehirn einnehmen© Anna Fuchs, München

Buch
Tipp

Fenster ins Gehirn

John-Dylan Haynes, Matthias Eckoldt Fenster ins Gehirn. Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann | Berlin 2021: Ullstein Verlag | 24 €

Wie weit sind Sie in Ihrer Forschung von der universellen Gedankenlesemaschine entfernt? Welche Anwendungen sind in nächster Zeit zu erwarten?

Eine universelle Gedankenlesemaschine ist ein Gerät, das die beliebigen Gedanken von beliebigen Personen entschlüsseln kann, und zwar ohne vorher auf das Gehirn der Probanden neu trainiert zu werden. Davon sind wir weit entfernt. Seit einiger Zeit haben auch Firmen das Interesse, diese Ansätze für kommerzielle Zwecke zu nutzen, um etwa Produktpräferenzen aus der Hirnaktivität auszulesen oder Lügen zu erkennen. Diese Verfahren sind aber bei Weitem nicht ausgereift.

Welche ethischen Fragen stellen sich? Macht es Ihnen Angst, dass sich die großen Techkonzerne mit ihren niedrigen Datenschutzstandards um Gedankenlesetechnologie bemühen?

Das ist mir eine Herzensangelegenheit. Deshalb organisiere ich jedes Frühjahr mit Kolleg*innen in Berlin eine große Veranstaltung, bei der die ethischen Aspekte unserer Forschung intensiv diskutiert werden. Wenn wir die Gedanken anderer Personen aus ihrem Gehirn auslesen können, übertreten wir eine Grenze und dringen in ihre mentale Privatsphäre ein.

Wir sind es gewohnt, dass wir unsere intimsten Gedanken geheim halten können. Deshalb brauchen wir auch Regeln, um die Privatheit unserer Gedankenwelt zu schützen, gerade wenn die Daten für kommerzielle Zwecke in Firmen verwendet werden. Denn man könnte zum Beispiel einiges über eine Person finden, was sie nicht preisgeben möchte. Es gibt aber neben der Privatsphäre ein weiteres Problem, nämlich wenn die Verfahren überschätzt werden. Derzeit versprechen Hightechfirmen wahre Wunder, und einige behaupten, sie könnten Lügen oder Produktpräferenzen zuverlässig erkennen. Das weckt ganz falsche Vorstellungen. Deshalb ist es mir so wichtig, darüber zu informieren, was geht und was Zukunftsmusik ist.

Was sind die spannendsten Themen in Ihrer Forschung in den nächsten Jahren?

Individualität: Jeder Mensch codiert seine Gedanken auf sehr individuelle Weise im Gehirn. Das hat man noch nicht mal in Ansätzen verstanden. Und vielleicht verbirgt sich dahinter einiges, was uns helfen kann, uns gegenseitig besser zu verstehen.

Das Gespräch führte Jörg Schmidt.

Prof. Dr. John-Dylan Haynes

studierte Psychologie in Bremen und promovierte in Bremen und Magdeburg. 2005 übernahm er eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Im Jahr darauf übernahm er eine Professur an der Charité Berlin und leitet dort inzwischen ein MRT-Forschungszentrum.

Beitrag teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Pinterest
XING
WhatsApp
Email

Ähnliche Beiträge

Schüler und Schülerin sitzen an einem Tisch im Klassenzimmer, während ihnen die Lehrerin etwas erklärt
11. Februar, 2025
Die Auseinandersetzung mit politischer Neutralität in Schulen und die Verantwortung von Lehrkräften in gesellschaftlichen Krisensituationen sind von zentraler Bedeutung für die Weiterentwicklung und den Schutz einer demokratischen und menschenfreundlichen Gesellschaft. Der Beutelsbacher Konsens bietet seit Jahrzehnten Orientierung für die politische Bildung in der Schule, auch über den Politikunterricht hinaus. Er betont die Notwendigkeit, kontroverse Themen im Unterricht kontrovers zu behandeln, ohne die Schüler:innen dabei zu indoktrinieren.
Mädchen löst eine Matheaufgabe
22. Januar, 2025
Trotz vielfältiger Maßnahmen in den Bereichen Gendersensibilisierung, Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit sind Frauen in Deutschland in MINT-Berufen im Schnitt immer noch unterrepräsentiert. Zwar gibt es mittlerweile Fachgebiete mit paritätischer Verteilung (etwa Biologie, Medizin), aber auch viele Fachgebiete mit weiterhin extrem niedrigen Frauenanteilen (beispielsweise Physik, Ingenieurswissenschaften). Das zeigt, wie wichtig es ist, eine gendersensible MINT-Bildung zu fördern, die Mädchen und junge Frauen gezielt ermutigt, sich in bisher männerdominierten Bereichen auszuprobieren und langfristig Fuß zu fassen.
Bild eines Schülers mit VR-Brille
16. Januar, 2025
Kann die Zukunft uns verzaubern? Oft blicken wir mit gemischten Gefühlen auf das, was vor uns liegt. Doch Trend- und Zukunftsforscher wie Matthias Horx ermutigen uns, die Möglichkeiten von morgen nicht nur als mitunter Angst einflößende Herausforderung, sondern auch als vielversprechende Chance zu sehen. Sein Buch Der Zauber der Zukunft lädt dazu ein, sich mit einem positiven Blick auf Veränderungen einzulassen – ein Gedanke, der gerade für Lehrkräfte spannend ist. Doch wie können wir diese Perspektive auch in die Klassenzimmer bringen?
Mit dem DESI-Instrument in Arizona wird gegenwärtig eine dreidimensionale Karte der Position und Bewegung vieler Millionen Galaxien erstellt
27. November, 2024
Der Erkenntnisfortschritt der modernen Kosmologie verlief in den letzten zwei, drei Jahrzehnten rasant. Und doch sind die Konsequenzen äußerst kurios. Noch tappt die Wissenschaft vom Universum buchstäblich im Dunkeln, denn der Hauptbestandteil des Alls ist rätselhaft.
Strahlend heller Sonnenschein am klaren blauen Himmel mit ein paar zarten, dünnen Wolken im Hintergrund.
25. November, 2024
Wie fängt man Sonnenlicht am besten ein? Das ist nicht nur bei der Aufstellung von Photovoltaikanlagen wichtig, sondern auch für die Sonnenenergiewandler der Pflanzen, also bei ihren Blättern und deren Verzweigung und Ausrichtung. Es ist nicht vorteilhaft, wenn sie sich gegenseitig im Wege stehen und beschatten. Die Blattstellung folgt einem geometrischen Muster, das, mathematisch betrachtet, mit Spiralen, Selbstähnlichkeit, Fibonacci-Zahlen und dem Goldenen Winkel zu tun hat.
Mehrere Hände, die in einem Klassenzimmer vor einer Tafel mit mathematischen Formeln in die Luft gehoben sind
15. November, 2024
Bildungsdiskussionen in Deutschland sind immer auf Messers Schneide: Auf der einen Seite müssen wir darüber sprechen, was wir eigentlich erreichen wollen. Auf der anderen Seite soll es nicht in langwierige Diskussionen über abstrakte Begriffe abdriften. Was vonnöten ist, ist ein Kern, der die Diskussion bestimmt. Dieser liegt darin, warum wir noch Schulen haben. Sie sind Orte des Lernens – oder sollten es sein. Wir brauchen einen Gegenentwurf zu dem traditionellen Schulverständnis.
Energiefresser Internet
28. Oktober, 2024
Das Internet ist zu einem unverzichtbaren Teil unseres Alltags geworden. Wir alle nutzen es, wenn auch zu ganz unterschiedlichen Anteilen, zur Kommunikation, Unterhaltung, Arbeit und Bildung. Doch kaum jemand macht sich Gedanken darüber, wie viel Energie für all diese Dienste und Daten im Netz aufgewendet werden muss.
Mikrophon mit Publikum im Hintergrund
13. August, 2024
Im ersten Teil der Reihe über TED Talks ging es um Gamification-Ansätze im Klassenzimmer, um den „Schüler“ ChatGPT und darum, wie künstliche Intelligenz das Bildungssystem bereichern kann. Inzwischen ist das TED-Universum um einige weitere inspirierende Talks zum Thema Bildung angewachsen – und auch ältere Talks haben nichts an Aktualität verloren, denn der Wandel der Bildungslandschaft scheint ein immerwährendes Thema zu sein. Grund genug, immer mal über den eigenen Tellerrand zu schauen und sich für den eigenen Unterricht inspirieren zu lassen, etwa mit einem neuen Blick auf Tests und Klassenarbeiten.
Welcome Collection London
19. Juli, 2024
Wie groß ist der Radius der Erde? Fallen alle Objekte mit derselben Geschwindigkeit? Und warum erscheinen die Farben eines Regenbogens immer in der gleichen Reihenfolge? Bei all dem Wissen, das uns das Internet heute in Sekundenschnelle wie auf einem goldenen Tablett präsentiert, vergessen wir allzu oft, welch jahrhundertealte Geschichte hinter so manchen Fakten steckt – und wie viel Versuch und Irrtum.
Header_MZ Blogbeitrag_04-2023 (12)
18. Juni, 2024
Eine auf den ersten Blick völlig unförmige Figur wird um eine Achse gedreht. Plötzlich nimmt ihr Schatten die Gestalt einer aus einer Kindersendung wohlbekannten Maus an. Dreht man sie weiter, erscheinen nacheinander die beiden besten Freunde der Maus: ein Elefant und eine Ente. Wie kann das sein?
Header_MZ Blogbeitrag_04-2023 (11)
28. Mai, 2024
Inmitten der fortschreitenden Debatte über nachhaltige Mobilität ist der Verbrennungsmotor nach wie vor ein zentraler Akteur auf deutschen Straßen und macht den Verkehrssektor zu einem der größten CO2-Verursacher. Um den Klimawandel zu stoppen, müssen wir den CO2-Ausstoß jedoch reduzieren. Die Nutzung erneuerbarer Energien wie Solarenergie, Windenergie, Wasserkraft und Geothermie anstelle von fossilen Brennstoffen könnte genau dazu beitragen. Der Verkehrssektor könnte durch die Umstellung von Verbrennungsmotoren auf Elektroantriebe oder sogenannte E-Fuels nahezu emissionsfrei sein und somit die Umwelt und das Klima schützen und das Leben auf unserem Planeten nachhaltiger gestalten.
Blogbeitrag_Fachkräftemangel
14. Mai, 2024
Obwohl die Digitalisierung ist in den letzten Jahrzehnten viele Bereiche unseres Lebens verändert hat, ist die Integration digitaler Technologien in Bildungseinrichtungen noch nicht so weit fortgeschritten, wie es sich so manche Lehrkraft und so manche Schüler:in wünschen würde. Dabei werden ebendiese Schüler:innen von heute die IT-Fachkräfte von morgen sein.