Wir führen Krieg gegen die Natur, und zwar schon lange – über Jahrhunderte und Jahrtausende. Aber seit einigen Jahrzehnten ist dieser Krieg brutaler, radikaler, ausufernder geworden. Vor allem ist er längst selbstmörderisch. Wir führen ihn gegen unsere Umwelt und Mitwelt, gegen die biologische Vielfalt dieses Planeten, die Biodiversität. Doch es geht dabei nicht nur um das Sterben der anderen Arten, es geht um unser eigenes Überleben als Menschheit.
Ein Beitrag von Matthias Glaubrecht
Schwarzmalerei, Alarmismus und Panikmache? Nein, nein und nein! Die gegenwärtige Krise der Biodiversität ist ebenso wie der Artenschwund und das Artensterben keine ausgedachte apokalyptische Übertreibung. Vielmehr zeigen sich im chronischen Abwenden vor dem Ausmaß des Artentods unsere Hybris und unser evolutives Versagen als Homo sapiens zugleich. Während wir zuerst bei unserem Siegeszug als Jäger*innen und Sammler*innen überall dort, wo wir auftauchten, der Megafauna wie Mammut, Macrauchenia und Moa den Garaus machten und manche dieser archaischen Lebensweise noch immer als Hobby frönen, haben wir weltweit an die Hälfte der Wälder die Axt gelegt und beinahe ebenfalls die Hälfte der terrestrischen Oberfläche unter den Pflug genommen, vielerorts in industrieller Weise. Wir nutzen mittlerweile drei Viertel der Erde für unsere Zwecke, einschließlich unserer Siedlungen, Städte und Straßen. Und die von uns erzeugte anthropogene Masse wie Beton, Zement, Metalle und Plastik wiegt neuerdings die gesamte Biomasse der Erde auf.
Wie wir sukzessive Leben auslöschen
Kein Zweifel: Obgleich gerade einmal 300.000 Jahre alt und mithin eine Eintagsfliege der kosmischen wie der organismischen Evolution, sind wir zugleich eine der erfolgreichsten Spezies, die je die Erde besiedelten. Derzeit sind wir mehr als 7,9 Milliarden Menschen; jährlich kommen 80 Millionen hinzu, was in etwa der Bevölkerung Deutschlands entspricht. Bis Mitte des Jahrhunderts dürften wir laut aktueller Prognosen knapp neun Milliarden Menschen sein, bis 2100 könnten es bereits elf Milliarden sein. Elf Milliarden Menschen mit legitimen Ansprüchen an Nahrung und mit ökonomischen Aktivitäten. Dank dieses exponentiell steigenden Bevölkerungswachstums und durch unseren rasant wachsenden Ressourcenverbrauch sowie unsere nicht nachhaltige Art zu wirtschaften, ist der Mensch zum entscheidenden Evolutionsfaktor auf diesem Planeten geworden. Wir manipulieren dabei nicht nur die Geosphäre, wir dominieren auch die Biosphäre. Doch mit unserem enormen ökologischen Fußabdruck bringen wir die Erde an ihre planetaren Grenzen.
Eine der bisher oft übersehenen Signaturen des Anthropozäns, also der Menschenzeit, ist die „biological annihilation“ – die Auslöschung des Lebens. Neben „deforestation“, der globalen Entwaldung, ist „defaunation“, die Entleerung der Tierwelt, das markanteste Zeichen für unsere verheerende Lage. Mehr als eine Million Arten an Tieren und Pflanzen, so warnt der Weltbiodiversitätsrat IPBES, würden in den kommenden Jahrzehnten aussterben. Biosystematiker*innen haben in den vergangenen 250 Jahren gerade einmal 1,9 Millionen Arten beschrieben – von schätzungsweise etwa acht oder neun Millionen Arten insgesamt. Bemerkt wird bislang meist nur das Verschwinden einiger weniger charismatischer Arten – gleichsam den Flaggschiffen des Naturschutzes: Elefant, Eisbär und Tiger, um nur einige zu nennen. Zur Zeit von Rudyard Kiplings Dschungelbuch und seines Shir Khans gab es noch um die 100.000 Tiger, heute sind es kaum mehr als 4000 frei lebende, ihr Verbreitungsgebiet schrumpft und Wilderei setzt ihnen weiterhin zu. Bali-, Java- und Südchinesischer Tiger sind bereits ausgestorben – und mit ihnen seit 1900 mehr als 500 weitere Wirbeltierarten. Noch einmal knapp 500 dieser Arten werden bis 2050 dazukommen.
Wir kennen nur die Spitze des Artenschwunds
Doch beim Artenschwund geht es nicht allein um die großen Tiere unter den Säugern oder die auffälligen unter den Vögeln. Zwar verschwinden auch viele von ihnen, vordringlich aber geht es um die Heerscharen wissenschaftlich noch weitgehend unbekannter, zahlenmäßig jedoch wesentlich bedeutsamerer Wirbelloser. Es geht um Insekten und andere Gliedertiere wie Spinnen und Krebse, um Weichtiere wie Schnecken und Muscheln und viele andere Lebewesen. Sie stellen die Mehrzahl und Masse an Arten – und sie verschwinden derzeit massenhaft wie nur selten zuvor in der Erdgeschichte. So haben wir in den vergangenen Jahrzehnten etwa in Deutschland – Aktion freie Windschutzscheibe – knapp 80 Prozent der Biomasse an Fluginsekten verloren. Unter anderem auch deshalb sind allein in Europa Unmengen an Vögeln verschwunden, gerade erst war in Studien von 600 Millionen (!) die Rede; in Nordamerika sind es 30 Prozent aller Vögel und damit immerhin drei Milliarden (!). Und wir plündern weiterhin die Meere, indem wir ihnen jährlich 80 Millionen Tonnen Fisch entziehen.
All dies ist nur die nachweisbare Spitze eines globalen Verlustes von Leben, der sich gerade zur größten ökologischen Krise seit dem Ende der Dinosaurier auswächst. Nach deren kosmisch bedingtem Aussterben aber dauerte es rund zehn Millionen Jahre, bis die Biodiversität wiederhergestellt war. Das geschah erst im Eozän, dem Zeitalter der Morgenröte, als unsere Welt vor etwa 55 Millionen Jahren neu entstand. Diesmal sind wir, der Mensch, der Meteorit, der der Evolution ein Ende bereitet. Und wir haben keine Zeit zu warten, ansonsten wird das Leben ohne uns weitergehen.
Erst die Wirtschaft, dann die Natur
Ungeachtet dieser weltweit massiven und für Expert*innen längst augenfälligen Artenkrise, die keineswegs nur anderswo und auch nicht erst in ferner Zukunft wütet, kommt das Thema Biodiversität noch immer viel zu kurz im öffentlichen Diskurs. Immer scheint etwas anderes wichtiger zu sein, und die Ignoranz der Natur gegenüber hat traurige Tradition. Unlängst, im Oktober 2021, ging die 15. Weltnaturschutzkonferenz (COP-15) zu Ende, die pandemiebedingt ohnehin mit einem Jahr Verzögerung virtuell startete und Ende April 2022 im südchinesischen Kunming fortgesetzt werden soll – ausgerechnet dort, wo rasant Biodiversität vernichtet wird und keineswegs zufällig die Pandemie ihren eigentlichen Ursprung haben dürfte. In der vorläufigen Abschlusserklärung dieser UN-Artenkonferenz wurde einmal mehr nur guter Wille bekundet, aber wenig Konkretes vereinbart.
Wir stellen die Wirtschaft vor die Natur – mit verheerenden Konsequenzen
© Ralf Vetterle – Pixabay
Immerhin erkennt das Kunming-Papier die „existenzielle Bedrohung für unsere Gesellschaft, unsere Kultur, unseren Wohlstand und für unseren Planeten“ an. Doch weiter beachtet wurde dies ebenso wenig wie der jüngste, höchst bedenkliche Beschluss der Ampelkoalition, hierzulande den Arten- und Naturschutz notfalls in den Wäldern und auf den Feldern schneller als bisher weiteren Windkraftanlagen und Stromtrassen zu opfern. Einmal mehr erfolgt wirtschaftlicher Ausbau auf Kosten der Natur – an dieser Front ist das nichts Neues, nur jetzt in Grün.
Warum wir eine echte Therapie brauchen
Die globale Krise der Biodiversität hat bisher weder die Politik noch Medien und Gesellschaft erreicht: Der Krieg wütet weiter, das Kettensägenmassaker setzt sich fort und die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Ökosysteme und mit ihnen deren Artengemeinschaften verschwinden in einem nie gekannten rasanten Tempo. Bei uns werden sie vor allem von einer industrialisierten Landwirtschaft buchstäblich an den Rand gedrängt. Und in den Tropen mit der größten Artenvielfalt holzen und fackeln wir weiter munter Regenwälder ab – alljährlich Flächen so groß wie Bundesländer, um Weiden für Rinder, Sojafelder und Ölpalmplantagen anzulegen. Gleichzeitig vernichten Buschbrände ganze Landstriche: allein in Australien fast dreimal so viel wie die gesamte Waldfläche Deutschlands. Von Afrika ganz zu schweigen, wo eine wachsende Bevölkerung immer mehr Vegetation zu Feuerholz macht, aber auch internationale Multis auf Rodungslizenzen korrupter Regierungen maroder Nationen lauern.
Doch auch hierzulande schaffen wir riesige Flächen an Kahlschlägen. So schrumpften die Wälder weltweit allein in den zurückliegenden 30 Jahren auf eine Fläche von der Größe der EU, während sich die landwirtschaftlichen Flächen ausdehnten, um darauf Rohstoffe zu erzeugen, von Fleisch bis zu Kakao und Kaffee. Wir können kaum so viel Wald wieder aufforsten, wie durch diese Waldverluste bereits verschwunden ist – und mit ihnen zahllose Arten.
Noch eine Krise also, noch mehr Katastrophen. Haben wir nicht schon genug mit der Corona-Pandemie zu tun, mit dem Dauerthema Klimawandel und den Kosten gesellschaftlicher Transformation dank Energiewende? Mit den Folgen seines Tuns ist der Mensch zunehmend überfordert, geht es ihm doch immer zuerst um sein eigenes Fortkommen.
Zusammen mit den Waldflächen verschwinden auch zahllose Tierarten
© Pok Rie – Pexels
Wäre unser Planet ein Patient, müssten wir bei ihm multiples Organversagen diagnostizieren, und dem Menschen Aufmerksamkeitsdefizit und Realitätsverlust bis hin zur Erkenntnisverweigerung attestieren. Doch wenn zur Leberzirrhose und Niereninsuffizienz noch Herzversagen hinzukommt, hilft es auch nicht, sich über die Medizin zu beschweren. Nur die ehrliche Diagnose führt zur echten Therapie, die mehr als Symptome kuriert.
Was können, was müssen wir also tun?
Zum einen müssen wir erkennen, dass der Klimawandel nicht unser einziges Problem ist. Vermutlich ist er entgegen der derzeitigen Wahrnehmung auch nicht unser größtes Umweltproblem. Mag das fossile Zeitalter seinem Ende entgegengehen und das 2-Grad-Ziel doch noch erreicht werden: Wir werden Mitte des Jahrhunderts in einer Welt leben, die wir kaum wiedererkennen werden. Tatsächlich tragen klimatische Effekte nur in der Größenordnung von 10 bis 15 Prozent zum gegenwärtigen Artensterben bei. Selbst wenn wir beim Klima demnächst alles richtig machen, bleibt die globale Biodiversitätskrise; und die wird sich dank der sich abzeichnenden Zielkonflikte um den Schutz der Natur noch verschärfen. Das Klima kann sich vergleichsweise kurzfristig wieder ändern, die über Jahrmillionen entstandene Artenvielfalt ist unwiederbringlich verloren. Es droht das Ende der Evolution, wie wir sie kennen.
Zum anderen müssen wir erkennen, dass es bei dem Jahrhundertproblem Artensterben – genau wie beim Klimawandel – im Kern nicht um die Erde und das Leben darauf geht, sondern um uns Menschen und unser Überleben auf diesem einzigen Planeten, den wir haben. Egal, was die Bauernfänger*innen der Postmoderne wie etwa ein vom Mars halluzinierender Elon Musk uns glauben machen wollen. Was in fataler Weise nach wie vor verkannt wird, aber umso mehr gilt, je mehr wir werden: Wir profitieren von den unentgeltlichen Dienstleistungen der irdischen Ökosysteme. Die Natur erbringt Leistungen, die mehr als das 1,5-Fache des weltweiten Bruttosozialprodukts ausmachen.
Biodiversität ist die Lebensversicherung unseres Planeten
Sowohl unsere Ernährung als auch unsere Gesundheit hängen von den funktionierenden und resilienten Ökosystemen ab. Die Ökosysteme produzieren Fleisch, Fisch und Früchte, alles vom Honig bis zum Holz, von Apfel und Avocado bis zu Kaffee und Kakao. Ökosysteme bauen sich durch ein komplexes Netzwerk vielfältiger Arten auf. Je mehr wir von ihnen verlieren, desto mehr Maschen gehen verloren – bis das Netz irgendwann zerreißt. Gesunde Böden, Bestäuber, beständige Wasserversorgung, Bekleidung – wenn Natur und Arten verschwinden, werden weltweit erst Ökonomien leiden und dann Menschen sterben. Katastrophen, Krankheiten, Krisen und Kriege sind die Folge, weltweit. Oder in die Sprache einer Blue-Planet-Aktiengesellschaft übersetzt: Ökosysteme sind das Kapital unserer Erde, Arten sind wie Anleihen, sie sind Geld und Gold wert. Ihr massenhaftes Aussterben kommt einem biologischen Börsencrash gleich, der das Unternehmen Menschheit in den Bankrott treibt.
Um uns Wohlstand und Wohlergehen zu sichern, schlagen Biodiversitätsforscher*innen gleichsam globale Stützungskäufe vor. Ihr Ziel ist nicht länger, nurmehr in einzelne ausgesuchte Aktien zu investieren, ihr Ziel ist vielmehr, bis zum Ende des Jahrzehnts auf 30 Prozent der Erdoberfläche zu Land und zu Wasser die Natur unter Schutz zu stellen. Ein ehrgeiziges Ziel, gewiss, aber auch eines, das analog dem 2-Grad-Klimaziel messbar und politisch umsetzbar ist. Weil Landverbrauch und Landnutzung zwei große Artenkiller sind, garantiert nur ein globales Sicherheitsnetz geschützten Naturlandes den Erhalt biologischer Vielfalt. Neben der Verdopplung bestehender Naturschutzgebiete bedeutet das auch, wo immer es geht zu renaturieren und auch Städte zu begrünen – mithin anderen Arten mehr Raum zum Leben zu geben.
Fazit
Eine Utopie? Keineswegs. Wir müssen allerdings die Mauer der Ignoranz gegenüber der Ökonomie der Ökologie überwinden, die Natur im doppelten Wortsinn in Wert setzen und konzertiert im globalen Maßstab handeln. Echter Schutz der Natur darf nicht länger eine weitere Abwehrschlacht sein, nicht die Rettung der letzten Mohikaner vom Aussterben bedrohter Arten.
Wer glaubt, mit ein paar Bienenhotels hier, einem Lerchenfenster da oder gar einer begrünten Hausfassade in der schönen neuen „smart city“ sei es in Zukunft getan, hat diese verspielt. Wir müssen lernen, den Planeten im großen Maßstab wie einen Garten zu pflegen. „Gardening the Earth“, aber nicht mehr im überkommenen Sinne von „Macht euch die Erde untertan“. Vielmehr müssen wir uns endlich als einen Teil der Natur begreifen, unsere spezifische ökologische Nische weiterentwickeln und uns darin nicht so breit machen, dass wir anderen Arten keine Chance zum Überleben mehr lassen.
Der Schutz der Biodiversität ist machbar, aber nur, wenn wir endlich akzeptieren, dass Ressourcen endlich und Natur samt ihrer Arten auf Konferenzen und in Koalitionen nicht länger verhandelbar sind. Ansonsten läuft die Zeit für die Blue Planet AG ab. Kunming 2022 ist unsere vermutlich letzte Chance auf einen anhaltenden Waffenstillstand im Krieg gegen die Natur.
Matthias Glaubrecht
ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und Wissenschaftlicher Leiter des Projekts „Evolutioneum“ am dort neu gegründeten Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB). Zuletzt erschien sein Spiegel-Bestseller Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten, in dem er Fakten und Befunde zum anthropogenen Artenwandel
beschreibt.