Leistungssteigerung per Pille oder kurz „Hirndoping“ ist zu einem regelrechten Trend geworden, der innerhalb weniger Jahre besorgniserregende Ausmaße angenommen hat. Doch wie kommt das? Der Beitrag beleuchtet das auch für Schulen brisante Thema.
Der Terminus „pharmakologisches Neuroenhancement“ oder kurz „Neuroenhancement“ beschreibt den Einsatz diverser Substanzen zur geistigen Leistungssteigerung durch Gesunde, ohne dass dafür eine medizinische Notwendigkeit besteht. Dazu werden die unterschiedlichsten
frei verkäuflichen Mittel, illegale Drogen sowie verschreibungspflichtige Medikamente eingesetzt. „Hirndoping“ hingegen beschreibt nur den Einsatz verschreibungspflichtiger Medikamente und illegaler Drogen zu diesem Zweck und „Soft Enhancement“ nur die Einnahme frei verkäuflicher Substanzen. Zu den frei verkäuflichen Substanzen zählen v. a. koffeinhaltige Präparate wie Energydrinks, Koffeintabletten und frei verkäufliche pflanzliche Präparate (z. B. Ginkgo-Präparate). Zur Gruppe der verschreibungspflichtigen Medikamente zählen v. a. ADHS-Medikamente wie Methylphenidat (z. B. Ritalin®) und Modafinil (z. B. Vigil), und zur Gruppe der illegalen Drogen gehören beispielsweise „Speed“ oder „Ecstasy“. Allen Definitionen gemeinsam ist das Ziel: die Steigerung der individuellen geistigen Leistungsfähigkeit, v. a. in kognitiver Hinsicht, also bezüglich Vigilanz (Wachheit), Aufmerksamkeit, Konzentration und Gedächtnisprozessen.
Wirkungen, Nebenwirkungen und Risiken
Die leistungssteigernden Effekte von Neuroenhancern sind nur sehr schwer zu bewerten: Es gibt seit vielen Jahren zahlreiche Studien, die sich damit beschäftigen und zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Dabei basieren die Ergebnisse zumeist auf „Laborbedingungen“, die mit den Bedingungen des alltäglichen Lebens sowie mit dem Alltag an Schulen und Universitäten kaum etwas zu tun haben. Sie basieren auf artifiziellen Tests wie dem Drücken einer Taste auf der Computertastatur, nachdem ein roter Farbklecks auf dem Bildschirm erschienen ist. Nur vereinzelt gibt es Tests, die komplexere kognitive Leistungen abprüfen: In diesem Rahmen habe ich drei potenzielle Neuroenhancer an gesunden Schachspielern getestet und das Schachspiel als hochkomplexe Aufgabe zur Bewertung der Neuroenhancer herangezogen, bei der sich verschiedene kognitive Domänen vermischen (Erinnern an gelernte Spielzüge, Erfahrung,
visuelle Fähigkeiten, das gesamte Schachfeld im Auge zu haben, Abwägen verschiedener Züge, psychomotorische Fähigkeiten, die Züge auszuführen, etc.). Hierbei zeigte sich, dass Methylphenidat, das im deutschsprachigen Raum meistverkaufte ADHS-Präparat (Präparat gegen die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung), tatsächlich zu einer signifikanten Verbesserung der „Performance“, Schach zu spielen, führte – gemessen anhand gewonnener, verlorener und unentschieden gespielter Partien, gefolgt von Modafinil und Koffein. Darüber hinaus konnte bereits in früheren Studien gezeigt werden, dass viele Neuroenhancer bei müden (Test-)Personen besser halfen als bei Ausgeruhten und bei kognitiv schlechterer „Ausgangslage“ ebenso besser halfen als bei kognitiv guter Ausgangslage.
Methylphenidat als verschreibungspflichtiges und sogar BtM-pflichtiges Medikament (das dem sogenannten Betäubungsmittelgesetz unterliegt) zeigte sich insgesamt als am wirkungsvollsten. Nur Amphetamine selbst zeigten sich als noch geringfügig wirkungsvoller. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Amphetamine einerseits (ADHS-)Medikamente darstellen, andererseits aber auch zu den illegalen Drogen gehören. Methylphenidat gehört dabei zur Gruppe der Amphetamine.
Modafinil ist ein verschreibungspflichtiges Medikament, das (fast) nur bei Narkolepsie angewendet wird, einer sehr seltenen Erkrankung, bei der die Patienten (auch) tagsüber plötzlich ein unüberwindbares Schlafbedürfnis haben und einfach einschlafen. Koffeinpräparate bzw. -produkte hingegen haben eine große Bandbreite, die bei der Tasse Kaffee mit ca. 150 Milligramm Koffein beginnt. Der sogenannte „Venti“®-Becher von Starbucks enthält knapp 600 Milliliter Kaffee und damit ca. 500 Milligramm Koffein. Energydrinks hingegen enthalten pro Dose lediglich 80 Milligramm Koffein, aber zusätzlich noch 1.000 Milligramm Taurin, das jedoch in seiner Wirkungsweise und -effektivität lebhaft umstritten ist. Neben diesen Substanzen werden aber auch verschreibungspflichtige Antidementiva
zum Neuroenhancement eingenommen, darüber hinaus Phytopharmaka (pflanzliche Präparate) wie Ginkgo- oder Ginseng-Präparate. Die prokognitive Wirkung ist aber tendenziell zu vernachlässigen.
Abgesehen von der Wirkung dieser Substanzen dürfen die Nebenwirkungen nicht vernachlässigt werden: Bereits Koffein führt u. a. zu das Herz-Kreislauf- System betreffenden Nebenwirkungen. Die Nebenwirkungsrisiken bei verschreibungspflichtigen und v. a. bei BtM-pflichtigen Medikamenten sind aber noch weit ausgeprägter. Hinzu kommt bei BtM-pflichtigen Medikamenten und logischerweise bei illegalen Drogen ein nicht zu unterschätzendes Abhängigkeitsrisiko. Nicht umsonst rät die Arzneimittelfachinformation sowie die „Packungsbeilage“ bei Amphetamin- und Methylphenidat-Präparaten zur Behandlung von ADHS, diese in den Sommerferien versuchsweise abzusetzen. Rechtlich ist der Gebrauch bzw. Missbrauch von Medikamenten zum Neuroenhancement bislang nicht klar
eingeordnet worden; dennoch dürfte der Missbrauch rechtlich als heikel anzusehen sein.
Wie verbreitet ist Neuroenhancement?
Zur Verbreitung gibt es zahlreiche, aber mindestens ebenso widersprüchliche Daten wie über die Wirkung der Neuroenhancer. Dabei kommt es v. a. darauf an, wen man wie befragt und wie Neuroenhancement definiert wird: je anonymer (webbasierte, anonymisierende Befragungstechnik), desto höher die sogenannte Prävalenzrate (Einnahmewahrscheinlichkeit). Mit dem Lebensalter steigt die Wahrscheinlichkeit, jemals einen Neuroenhancencer probiert zu haben.
Die Prävalenzrate unter Studierenden, White-Collar-Workern („Schlipsträgern“) und Chirurgen liegt bei 20 Prozent für verschreibungspflichtige Medikamente und illegale Drogen; d. h., 20 Prozent der Befragten gaben zu, mindestens einmalig ein Medikament oder eine Droge gezielt und ausschließlich zum Neuroenhancement eingenommen zu haben. Bei koffeinhaltigen Produkten und Präparaten lag die Prävalenzrate noch deutlich darüber. Dies bestätigen auch Untersuchungen bei volljährigen Schülern kurz vor dem Abitur und Studierenden bestimmter Fachrichtungen.
Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke, M. A
Literaturtipp:
Andreas G. Franke: Hirndoping & Co. Die optimierte Gesellschaft.
Springer: Heidelberg
ISBN 978-3-662-58852-9
Über den Autor:
Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke, M. A., ist promovierter Mediziner und Soziologe sowie Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er ist Professor für Fallmanagement mit dem Schwerpunkt Beschäftigungsorientierung an der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA).