Die historische Forschung hat um die Mathematik-Schulbücher der Vergangenheit bislang einen großen Bogen gemacht. Schließlich ging es doch in den Lehrwerken vermeintlich nur um ideologiefreies Rechnen. Aber ist das wirklich so? Es ist an der Zeit, die Absurdität so mancher mathematischen Schulbuchaufgabe offenzulegen.
Welche historischen Erkenntnisse lassen sich aus Mathematik-Aufgaben
gewinnen? Da mathematische Sachaufgaben Abbildungen der jeweiligen Lebenswirklichkeit sind, eignen sie sich vorzüglich als historische Quellen. Was also können uns Aufgaben über den vorherrschenden Zeitgeist verraten?
Vom Kaiserreich bis zum Dritten Reich
Noch zu Kaisers Zeiten wurde das propagandistische Potenzial von mathematischen Sachaufgaben eher selten bewusst genutzt. Die typische Textaufgabe begann mit dem Wort „Jemand …“. Mathematik-Bücher für die Schule waren zumeist reine Aufgabensammlungen, die in der Weimarer Republik einfach weiter benutzt bzw. in Neuauflagen nur leicht verändert wurden. Von den veränderten politischen Bedingungen ist in ihnen nur wenig zu spüren. Dies ändert sich Mitte der 1930er-Jahre, als erste neue Schulbücher im Geiste des Nationalsozialismus erschienen. Bereits 1934 wurde das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung mit der Absicht gegründet, die föderale Bildungslandschaft in Deutschland zu zerstören. Die entsprechenden Vorgaben und Lehrpläne aus Berlin wurden allerdings mit unterschiedlicher Geschwindigkeit umgesetzt. Während die nach 1933 erscheinenden Mathe-Bücher für die Volksschule und die Mittelschulen menschenverachtende Aufgaben zu den
Themen Juden und Euthanasie enthalten, finden sich dergleichen Aufgaben in den Schulbüchern höherer Schulen kaum, vielmehr dominieren hier zum Teil recht anspruchsvolle Aufgaben militärischen Inhalts.
Textaufgaben in der DDR
Nach der doppelten Staatsgründung auf deutschem Boden 1949 erwiesen sich die Schulbuchmacher der DDR, was die militäraffinen Aufgaben anbelangte, als gelehrige Schüler der Schulbuchautoren vor 1945. Zwar zeichnen sich die Mathematik-Bücher der DDR zum Teil durch anspruchsvolle und moderne methodische bzw. didaktische Vorgehensweisen aus, doch dessen ungeachtet steht die mathematische
Sachaufgabe in ihnen im Dienst des Sozialismus. Ziel war es, die spezifischen Möglichkeiten des Faches Mathematik
für die kommunistische Erziehung der Jugend auszuschöpfen.
Textaufgaben in der alten und neuen Bundesrepublik
In der alten Bundesrepublik litten die mathematischen Sachaufgaben zumeist unter dem Diktum der strikten Anwendungsorientierung. Im Zentrum stand die Alltagsnähe der Aufgaben, die sie für Schülerinnen und Schüler interessanter machen sollte. Der didaktische Praktiker weiß jedoch: Je exotischer und unwirklicher eine Aufgabe ist, desto mehr Aufmerksamkeit kann erzielt werden. Leider ist die durchschnittliche mathematische Textaufgabe auch aktuell häufig immer noch gezwungen anwendungsorientiert und damit eher bieder und reizlos. Schließlich soll der junge Mensch auf sein bevorstehendes Berufs- und Alltagsleben vorbereitet werden. Da nimmt es kaum Wunder, dass durchschnittlich mathematisch (un-)begabte Schülerinnen und Schüler mit Desinteresse und Unwillen darauf reagieren.
Es wäre naiv, davon auszugehen, unsere Gegenwart – und damit auch unsere Mathematik-Bücher – sei ideologiefrei. Jede Zeit nutzt ihre Deutungshoheit. Aber wir können feststellen, dass gegenwärtige Textaufgaben eben nicht mehr bellizistisch oder chauvinistisch sind – und dies ist ein großer Fortschritt.
Bernhard Neff
Über den Autor:
Bernhard Neff studierte Geschichte und Mathematik und arbeitet als Gymnasiallehrer in der Erwachsenenbildung am Hessenkolleg Wiesbaden.
Sein Buch „Legen 5 Soldaten in 2 Stunden 300 Quadratmeter Stolperdraht …Die lustigsten Matheaufgaben von 1890 bis heute“ ist 2019 im riva-Verlag erschienen.