Der Begriff Achtsamkeit wird so häufig verwendet, dass seine wahre Bedeutung verblasst und seine Rolle bei der Unterstützung des Lehrens und Lernens übersehen wird. Eine zunehmende Zahl von Studien legt jedoch nahe, dass Achtsamkeitspraxis im Unterricht erheblich zur Erreichung von Bildungszielen beitragen kann.
Davon ausgehend befasst sich dieser Artikel mit der Integration von Achtsamkeitspraxis im naturwissenschaftlichen Unterricht. Dabei steht nicht nur das Lernen der Schülerinnen und Schüler im Fokus, sondern auch die Entwicklung eines prosozialen Klassenzimmers, in dem das Wohlergehen der Lernenden und der Lehrenden begünstigt wird.
Was ist Achtsamkeit?
Laut Erkenntnissen der Neurowissenschaften beträgt die natürliche Lebensdauer von Emotionen in Körper und Gehirn gerade einmal 90 Sekunden. Wie kann dann aber das Gefühl entstehen, dass uns bestimmte Emotionen den ganzen Tag oder noch länger begleiten? Studien haben gezeigt, dass solche Emotionen „am Leben gehalten“ bzw. „gefüttert“ werden. Negative Emotionen wie Wut oder Trauer werden z. B. durch negative Gedanken und negative Urteile erregt, die von der eigentlichen Situation ausgehen. Positive Emotionen wie Freude werden hingegen durch z. B. Dankbarkeit erregt. Wenn wir diese Prozesse erkennen und sie uns bewusst machen, haben wir ein viel größeres Maß an Kontrolle über unseren emotionalen Zustand. Achtsamkeitspraktiken können Teil dieses Erkennens und Bewusstmachens sein und uns dabei helfen, Emotionen zu kontrollieren.
Wie funktioniert das? Allgemeine Studien zur Achtsamkeit haben gezeigt, dass sie die Entwicklung von Selbstregulation unterstützt, weil dadurch die Fähigkeit trainiert wird, die eigene innere Umgebung bewusst wahrzunehmen (z. B. Emotionen, Urteile, Überzeugungen, Gedanken). Dadurch entsteht die Möglichkeit, bewusst zu entscheiden, wie auf diese innere Konstitution reagiert werden kann. Dies wird oft als „Taming the Monkey Mind“ (deutsch: Zähmung des Affenverstandes) bezeichnet. Während wir keine Kontrolle darüber haben, welche Gedanken und Emotionen auftauchen, erlaubt uns Achtsamkeit, diese inneren Prozesse kritisch zu betrachten, und ermöglicht uns, bewusst zu entscheiden, ob wir Gedanken und Gefühlen nachgehen oder sie ziehen lassen.
Warum Achtsamkeit praktizieren?
Zum Wohl des Ganzen
Mithilfe der besseren Selbstregulierung durch Achtsamkeitspraxis ist es möglich, soziale Beziehungen zu verbessern. Das wird bei der Entwicklung eines sogenannten „prosocial classroom“ deutlich. Ein prosoziales Klassenzimmer zeichnet sich durch Verbindung, Rücksicht und ein erhöhtes Maß an Mitgefühl zwischen den Akteuren aus. Durch Achtsamkeitspraktiken im Unterricht ist es Lernenden und Lehrenden möglich, zu erkennen, wie sie durch ihre Lernumgebung beeinflusst sind und wie sie diese auch selbst beeinflussen. Aus diesem Bewusstsein heraus kann ein erhöhtes Maß an Empathie und Fürsorge entstehen, das wiederum zu einem erhöhten Wohlbefinden führt. Achtsamkeit wirkt damit einem Teil der mit dem Unterricht verbundenen emotionalen Anstrengungen entgegen und unterstützt so die Arbeitszufriedenheit.
Für die Lernprozesse
Achtsamkeit im Klassenzimmer führt nicht nur zum verbesserten Miteinander, sondern unterstützt auch den Lernprozess. Es ist schon lange bekannt, dass Lernen allgemein durch positive Emotionen unterstützt wird. Genauso kann das Lernen bei „kontroversen“ Unterrichtsthemen wie z. B. Evolution oder Klimawandel durch negative Emotionen behindert werden. Diese Emotionen können entstehen, wenn die Lernenden eine gegensätzliche Auffassung vertreten, Aspekte der Problematik missverstehen oder sogar leugnen. Achtsamkeitsübungen können sowohl beim Umgang mit diesen Emotionen als auch bei der Aufklärung von Missverständnissen unterstützen. Sprechen wir von der Aufklärung von Missverständnissen, dann beschreiben wir den Prozess des Konzeptwechsels, also die aktive Ergänzung bzw. Veränderung der eigenen Vorstellungen oder Präkonzepte durch die Lernenden. Studien zeigen, dass Achtsamkeit in vielerlei Hinsicht analog zum bewussten Konzeptwechsel ist. Beides stellt einen freiwilligen Geisteszustand dar, der Motivation, Kognition und Lernen miteinander verbindet. Die Fähigkeit, Vorstellungen, Überzeugungen und Einstellungen wahrzunehmen und selbst Veränderungen darin vorzunehmen, wird durch Achtsamkeitsübungen erleichtert. Automatisierte Reaktionen werden zugunsten des bewussten und zielorientierten Handelns reduziert.
Wie Achtsamkeit in den Biologieunterricht integrieren?
Achtsamkeitspraktiken können in verschiedenen Formen und Formaten in den Unterricht eingeführt werden. Wir möchten hier zwei Möglichkeiten vorstellen: die Verbindung von Achtsamkeitsübungen mit Inhalten des Biologieunterrichts sowie die Einbindung von Achtsamkeit in die Lehrtätigkeit.
Verbindung von Achtsamkeit mit Unterrichtsinhalten
Am leichtesten lässt sich Achtsamkeit in die Themengebiete Evolution, Physiologie und Anatomie integrieren. Schon ab Klassenstufe 7 könnte die Physiologie der Atmung in Kombination mit ein paar achtsamen Atemübungen besprochen werden. Darauf aufbauend könnte der Zusammenhang des Atmungssystems mit dem Herz-Kreislauf-System wahrgenommen und betrachtet werden. Das könnte durch Pulsmessungen vor und nach einer Achtsamkeitsübung ergänzt werden. In Klasse 10 können Achtsamkeitsübungen vertieft werden, während über die evolutionären Gründe von Stress sowie Kampf- und Fluchtverhalten gesprochen wird. Achtsamkeitsübungen könnten z. B. als Methode zur Regulation von Stress identifiziert werden und zeigen, wie unnötigen körperlichen Belastungen entgegengewirkt werden kann. Ab Sekundarstufe II ist es dann auch möglich, über Neuroplastizität zu sprechen und bestimmte anatomische Veränderungen im Gehirn durch regelmäßige Achtsamkeitspraxis zu thematisieren.
Achtsamkeit in der Lehrtätigkeit
Zu einer achtsamen Lehrtätigkeit gehört es, sich und seine Bedürfnisse wahrzunehmen und diese Bedürfnisse auch nach außen zu kommunizieren. Es könnte bspw. mit den Lernenden vereinbart werden, dass in Einzelarbeitsphasen keine Fragen gestellt werden und so eine kurze Pause für die Lehrperson entsteht. Kurze Pausen können dann für eine Atemübung oder eine Betrachtung der inneren Umgebung genutzt werden. Ist dabei eine gereizte oder eine freundliche bzw. ausgeglichene Gemütsstimmung festzustellen, kann das auch mit den Lernenden kommuniziert werden und so den weiteren Unterrichtsverlauf positiv beeinflussen.
Eine für uns besonders lohnenswerte Achtsamkeitsübung, von der die Lernenden nichts mitbekommen, ist die sogenannte „Metta-Anwesenheitskontrolle“ (Metta = Wohlwollen, liebevolle Güte, Freundlichkeit, Freundschaft, guten Willen und aktives Interesse an anderen). Dabei kontrolliert man die Anwesenheit im Stillen und überlegt sich zu jedem Namen einen guten Wunsch, z. B.: „Mögest du glücklich sein.“ „Mögest du gesund bleiben.“ Solche Übungen kann man auch mit den Lernenden zusammen durchführen.
Fazit
Egal wie Achtsamkeitsübungen integriert werden, sie können das Klassenklima ganz maßgeblich beeinflussen, zu positiven Emotionen und einem erhöhten Wohlbefinden der Akteure führen sowie das Lehren und Lernen unterstützen.
Dr. Elizabeth Watts, Clemens Hoffmann
Über die Autoren:
Dr. Elizabeth Watts ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Biologiedidaktik. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Entwicklung von neuen Lern- und Lehrmethoden, die zu erhöhter Scientific Literacy, Digital Literacy und Inklusion führen sollen.
Clemens Hoffmann ist ein Doktorand der Arbeitsgruppe Biologiedidaktik. Seine Forschungsschwerpunkte sind der fachübergreifende Unterricht und die fächerübergreifende Kompetenzentwicklung in den Naturwissenschaften.