Ein fiktives Experiment beleuchtet die vertrackte Beziehung zwischen objektiven und subjektiven Wahrscheinlichkeiten.
Vergessen Sie das romantische Märchen, in dem der Prinz das schöne Dornröschen mit einem Kuss aus hundertjährigem Schlaf erweckt. In der aktuellen Kontroverse um „sleeping beauty“ (so der englische Titel des Grimm’schen Märchens) geht es um eine Versuchsperson in einem merkwürdigen Gedankenexperiment.
Das Experiment
Am Sonntagabend geht Dornröschen zu Bett. Vor ihr verborgen wirft der Versuchsleiter eine faire Münze. Ist das Ergebnis „Kopf“, so weckt er sie am Montag, stellt ihr eine Frage und verabreicht ihr eine Droge, die sie nicht nur wieder in den Schlaf versetzt, sondern auch ihre Erinnerung an die Erweckung samt Befragung auslöscht. Fällt die Münze so, dass „Zahl“ oben liegt, führt er das Protokoll aus Aufwecken, Befragen und Löschen der Erinnerung am Montag und am Dienstag durch. Mit dem Aufwachen am Mittwoch ist das Experiment beendet. Das Vertrackte an der Geschichte ist die Frage, die der Versuchsleiter ihr während der kurzen Wachphasen stellt: „Mit welcher Wahrscheinlichkeit, glaubst du, zeigt die Münze Kopf?“
Es gibt nämlich zwei Antworten. Die erste Antwort lautet: „Selbstverständlich ein halb!“ Dornröschen – die man sich als voll informierte und rationale Denkerin vorstellen muss – hat nämlich vor Beginn des Experiments erfahren, dass die Münze fair ist. Also war ihre subjektive Wahrscheinlichkeit für „Kopf“ am Sonntag noch gleich 1⁄2, und durch das Aufwecken hat sie keine neue Information erworben, die das revidieren könnte. Schließlich hat sie schon am Sonntag gewusst, dass sie geweckt werden würde, und auch das hat an ihrer Einschätzung nichts geändert.
Die zweite Antwort aber lautet: „Selbstverständlichein drittel!“ Im Moment ihrer Erweckung befindet sich Dornröschen, wie sie weiß, nämlich in einem von drei Szenarien: Es ist Montag und die Münze zeigt Kopf, kurz (M, K); Montag und Zahl (M, Z); Dienstag und Zahl (D, Z).
Die drei Szenarien sind für sie ununterscheidbar, denn sie bekommt weder einen Kalender noch die Münze zu sehen. Also bleibt ihr nichts anderes übrig, als jedem Ereignis die gleiche Wahrscheinlichkeit zuzuweisen. In nur einem der drei Szenarien zeigt die Münze Kopf, also …
Konzepte der Wahrscheinlichkeit
Wie kann es sein, dass es zu einer einfachen mathematischen Fragestellung zwei widersprechende Antworten gibt, zwischen denen man nicht durch schlichtes Nachrechnen entscheiden kann? Antwort: Das Problem ist nicht in erster Linie ein mathematisches. Aber das merkt man erst nach einer Weile. Das Konzept der Wahrscheinlichkeit im Allgemeinen und das der „subjektiven Wahrscheinlichkeit“ (in Dornröschens Kopf) im Besonderen sind problematischer, als es zunächst den Anschein hat.
In der Schulmathematik sind Wahrscheinlichkeiten in der Regel naturgegeben: Die Münze ist fair, und es wird nicht gefragt, wie man zu dieser Aussage kommt, sondern nur, was aus ihr folgt. Die Experimentalphysiker neigen dazu, Wahrscheinlichkeit als den Grenzwert der relativen Häufigkeit bei oftmaliger Wiederholung des Experiments zu verstehen (die „frequentistische“ Interpretation). Und Dornröschens Situation wird am ehesten durch die Bayes’sche Interpretation beschrieben, nach der Wahrscheinlichkeiten die unvollständige Kenntnis des Subjekts über das Objekt des Interesses widerspiegeln. In dieser Interpretation ist es auch sinnvoll, vergangenen Ereignissen Wahrscheinlichkeiten (ungleich 0 oder 1) zuzuschreiben. Subjektive Wahrscheinlichkeiten ändern sich mit jeder neuen Erkenntnis über das Objekt; und wenn alles mit rechten Dingen zugeht, streben sie mit jeder neuen Beobachtung (man denke an einen wiederholten Münzwurf) ganz frequentistisch gegen die „echten“ Wahrscheinlichkeiten. Was soll sich nun das arme Dornröschen denken?
In der Schule wäre jetzt ein Entscheidungsbaum angesagt. Zunächst fällt die Münze. Der linke Zweig „Kopf“ hat eine Wahrscheinlichkeit von 1⁄2 für sich und ist damit erledigt. An den rechten Zweig („Zahl“) muss man eine weitere Astgabel anhängen, deren Zweige heißen „Montag“ und „Dienstag“ und sind ebenfalls gleich wahrscheinlich. Also sind die Wahrscheinlichkeiten 1⁄2 für (M, K) und jeweils 1⁄4 für (M, Z) und (D, Z), woraus für Dornröschen die Antwort 1⁄2 folgen würde. Das klingt einleuchtend, ist aber falsch. Es gibt zwar einen Zufallsprozess, der darüber entscheidet, ob Kopf oder Zahl fällt, aber keinen, der darüber entscheidet, ob heute Montag oder Dienstag ist. Das Argument wirft objektive Wahrscheinlichkeiten (für den Münzwurf) und subjektive (nur in Dornröschens Kopf sind Montag und Dienstag gleich wahrscheinlich) durcheinander und liefert deswegen für keine der beiden eine brauchbare Aussage.
Für die Vertreter der Antwort 1⁄3 (die „Drittler“) spricht auch ein Argument der Wirtschaftswissenschaftler: Dornröschen ist eine rationale Nutzenmaximiererin. Jedes Mal, wenn sie aufwacht, wird ihr angeboten, auf Kopf oder Zahl zu wetten. Die richtige Einschätzung ihrer subjektiven Wahrscheinlichkeiten ist diejenige, die ihre erwartete Auszahlung maximiert. Mit diesem Argument findet das berüchtigte Ziegenproblem („Monty Hall problem“) eine allgemein anerkannte Lösung.
Hypothetisches Vergessen und subjektive Wahrscheinlichkeiten
Gleichwohl bleibt ein Unbehagen. Immerhin müsste Dornröschen eine Wahrscheinlichkeitsaussage treffen, die – wie sie weiß – objektiv falsch ist. Die „Halbierer“ interpretieren die Dornröschenfrage als die Frage nach der „objektiven“ Wahrscheinlichkeit. Die „Drittler“ verstehen sie laut dem Computerexperten Roland Stuckard so: „Mit welcher Wahrscheinlichkeit, glaubst du, erlebst du gerade eine Erweckung innerhalb des durch den Münzwurf ‚Kopf‘ induzierten Zweigs des Experiments?“
Und es bleibt das Argument der „Halbierer“, dass Dornröschen zwischen dem Einschlafen am Sonntag und dem Erwecken am Montag keine Information erworben haben kann, die ihre subjektiven Wahrscheinlichkeiten revidieren könnte. Was einem nur mühsam in den Kopf geht: Dieses Argument ist falsch, allerdings arbeitet das richtige mit dem umgekehrten Vorzeichen. Dornröschen erwirbt Information nicht, sondern verliert sie. Beim Aufwecken am Montag weiß sie nämlich nicht mehr, ob sie nicht schon einmal geweckt worden ist, in welchem Falle es schon Dienstag wäre. Aber beim Erwecken am Montag hat sie die Vergessensdroge noch gar nicht genommen, also auch noch nichts vergessen! Richtig, aber das hilft nicht. Sie muss damit rechnen, dass sie vergessen hat. Also ändert nicht nur echtes, sondern bereits hypothetisches Vergessen die subjektiven Wahrscheinlichkeiten – ein in der Tat gewöhnungsbedürftiger Gedanke.
Dr. Christoph Pöppe
Über den Autor:
Dr. Christoph Pöppe, Jahrgang 1953, hat Mathematik und Physik studiert. Von 1989 bis 2018 war er (der einzige) Redakteur für Mathematik und verwandte Gebiete bei der Zeitschrift „Spektrum der Wissenschaft“.
Literatur- und Linktipps:
Adam Elga: Self-locating belief and the Sleeping Beauty problem. www.t1p.de/dornroeschen1
David Lewis: Sleeping Beauty: reply to Elga. www.t1p.de/dornroeschen2
Pradeep Mutalik: Sleeping Beauty’s Necker Cube Dilemma. www.t1p.de/mutalik1
Pete Newbon: #MeToo, Sleeping Beauty and the often controversial history of fairy tales, 17. Januar 2018. www.t1p.de/smzf
Christoph Pöppe: Dornröschen und die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Spektrum der Wissenschaft 11/2019, S. 80–85