Eigentlich gibt es diese Wissenschaft gar nicht, die vom Stau. Deshalb ist wahrscheinlich auch lange Zeit so wenig über ihn bekannt gewesen.
Warum das so ist? Weil der Stau so vielfältig auftritt, dass man ein ganzes Spektrum von Wissenschaften bemühen muss, um sich mit ihm ernsthaft zu beschäftigen. Ingenieurwissenschaften (allen voran die Bauingenieure, aber auch die Verkehrswissenschaften und die Elektroingenieure, die Messeinrichtungen entwickeln), Physik, Mathematik, Informatik (alle drei zu seiner Berechnung), Wirtschaftswissenschaften (die wissen, was das alles kostet), Biologie (auch dort staut sich einiges), aber auch die Psychologie (denn meistens sind Menschen beteiligt und Mitverursacher).
Was staut sich?
Schaut man auf die betroffenen Objekte selbst, so staut sich da alles Mögliche zusammen. Angefangen von Autos auf Straßen über Menschen in Ansammlungen, Tiere an der Wasserstelle, Mikroben (in Wasser, Luft und sogar dem Menschen) oder Blutkörperchen in den Adern bis hin zu Körnern in Silos sowie Datenpaketen im Internet. Diese Liste ließe sich wahrscheinlich beliebig fortsetzen.
Gemeinsam ist allen Systemen, dass es sich um Transport einer (großen) Zahl von identischen (oder zumindest sehr ähnlichen) Objekten handelt. Zudem gibt es keine „zentrale“ Stelle, die die Steuerung übernimmt. Damit ist aber nicht das übliche Verkehrsmanagement gemeint, denn die Objekte gehorchen jeweils individuellen Gesetzen.
Warum staut es sich?
Der elementare Grund für die in den verschiedenen Umgebungen auftretenden Staus ist überall identisch. Immer, wenn zu viele Objekte sich zur selben Zeit am selben Ort in dieselbe Richtung bewegen wollen und gleichzeitig die Kapazität (oder auch die Belastbarkeit) des Transportsystems begrenzt ist, droht der Stau.
Ebenfalls gleich ist der Drang nach (gerichteter) Bewegung. Die Gründe für den jeweiligen Drang sind sehr vielfältig. Häufig sind es einfach physikalische Kräfte, die für den „Antrieb“ sorgen, wie bei granularer Materie, also Pillen, Körnern, Sand oder Kieselsteinen. Hier ist die Gravitation entscheidend, es können aber auch elektromagnetische Felder sein wie bei Elektronen, oder es gibt ganz andere Ursachen.
Definition von Stau
Was aber wirklich ein Stau ist, wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert. Schaut man lediglich auf den Straßenverkehr auf der Autobahn, so ist eine einfache Definition das Unterschreiten einer gewissen Geschwindigkeit (z. B. 30 km/h) über einen definierten Zeitraum (z. B. fünf Minuten). Oder aber, und das bevorzuge ich, das kurze Stillstehen aufgrund der anderen Fahrzeuge vor einem.
Die Staudynamik auf der Straße ist vergleichsweise einfach beschrieben, da sie sehr gut untersucht ist. Ungefähr 60 Prozent aller Autobahnstaus entstehen durch schiere Überlastung, der Rest hälftig durch Unfälle und Baustellen, bis auf zwei Prozent durch widrige Witterungsbedingungen. An Stellen, wo die Dichte steigt, also beispielsweise an Auffahrten oder Steigungen, wird der Verkehr aufgrund der erhöhten Dichte zähfließend (wissenschaftlich „synchronisiert“, da die Spuren dann ungefähr gleich schnell sind), die Geschwindigkeit ist dann zehn bis 30 km/h schnell (oder besser langsam).
Der Stau aus dem Nichts
Wenn dann in diesem Bereich durch „Verhaltensfluktuationen“ jemand übermäßig bremst und andere ebenfalls zum Bremsen zwingt, bis schließlich einer stehen bleibt, entsteht eine Stauwelle mit hoher Dichte (mehr als 125 Fahrzeuge auf einen Kilometer). Für jede Stauwelle ist jeweils ein einzelnes Fahrzeug samt Insassen verantwortlich. Diese Wellen bewegen sich mit ungefähr 15 km/h nach „hinten“, also gegen den Strom, weg. Sie können sich lange Zeit erhalten, 30, ja sogar 60 Minuten, und rückwärts über Rampen die Autobahn wechseln. Kommt einem eine solche Stauwelle entgegen, so entsteht schnell der Eindruck des bekannten „Staus aus dem Nichts“, da keine Ursache erkennbar ist. Das Besondere ist, dass die zähfließenden Bereiche wie Pumpen wirken und eine Stauwelle nach der anderen erzeugen, bis der Zufluss von hinten nachlässt. Das Ganze ähnelt einer Trichtersituation, wobei mehr eingefüllt wird, als der Trichter verkraftet. So ist dies auch zu sehen an Stellen, wo eine Spur wegfällt und eigentlich das Reißverschlussverfahren zum Einsatz kommen sollte.
Spätestens hier muss man nach allgemeineren Zusammenhängen suchen, um das Staukonzept auch auf andere Systeme übertragen zu können. Und da helfen ganz elementare physikalische Erhaltungsgesetze weiter: nämlich die für Energie und Impuls. Beide dürfen bei den dynamischen Prozessen natürlich nicht verletzt werden, und so fragt man sich, wie das im Einzelnen aussieht.
Wesentliches Unterscheidungsmerkmal bei den angesprochenen Systemen ist die Frage möglicher Stöße der Objekte untereinander mit entsprechendem Impulsübertrag. Auf der Straße passiert das zum Glück eher selten, bei granularer Materie ist es der Normalfall. Der Impuls wird an die Straße abgegeben. Finden aber Stöße statt, so ist zu klären, ob sie elastisch (ohne Verformung) oder inelastisch (mit Verformung) stattfinden. Ohne Stöße wird die Energie übrigens in Wärme (beim Bremsen) und mechanischen Abrieb (Bremsen, Straße) umgewandelt.
Man kann dies einfach veranschaulichen am Unterschied von Verkehr auf der Straße und im Autoscooter auf der Kirmes. Dort entsteht der Spaß ja gerade durch die Stöße, die dabei (meistens) elastisch sind. Der Effekt des Impulsübertrages ist, dass es in diesen Systemen „fahrende Staus“ gibt, also hochdichte Zonen, die sich als Ganzes bewegen. Hydrodynamisch betrachtet sind alle angesprochenen Systeme übrigens als „kompressible Flüssigkeiten“ anzusehen. Daher sind sie ganz anders als beispielsweise Wasser (inkompressibel) einzuordnen. Staus entstehen eben genau durch Verdichtung, also letztendlich Kompression.
Theorie der Stauentstehung
Die theoretische Behandlung der Stauentstehung ist erst seit dreißig Jahren ernsthaft betrieben worden. Der einfachste und erfolgreichste Zugang ist heute über Zellularautomaten ganz intuitiv möglich. Diese sind regelbasiert aufgebaut und arbeiten nicht mit komplizierten Differenzialgleichungen wie die ersten Versuche dazu. Sie ermöglichen die Modellierung räumlich dynamischer Systeme. Zugleich liefern sie hochrealistische Ergebnisse und konnten erstmals den Stau aus dem Nichts erklären.
Der Schlüssel zum Erfolg ist dabei die unmittelbare Einbeziehung des Zufalls. Die heute gängigen „Monte-Carlo“-Verfahren ziehen (nach verschiedenen Verfahren) Zufallszahlen und lassen so durch viele „Durchläufe“ das Spektrum der möglichen Ereignisse ausloten. So konnte das „Nagel- Schreckenberg- Modell“ die zufallsbedingte Stauentstehung 1992 schon zum ersten Mal anschaulich erklären. Im Modell setzt sich die Straße aus einzelnen Teilen, genannt Zellen, zusammen. Die Sicht ist binär: Eine Zelle ist leer oder wird von genau einem Fahrzeug besetzt. Auch die Zeit ist in Sekundenschritten nach demselben Schema zerlegt. In jedem wird zunächst gleichzeitig für alle Fahrzeuge festgelegt, wohin sie sich bewegen werden, dann erst werden die Fahrzeuge bewegt. Dem Modell liegt die Annahme des vom Menschen gemachten Verkehrs zugrunde. Es ist weltweit zur meistzitierten Arbeit der Verkehrs wissenschaften geworden.
Michael Schreckenberg
Über den Autor:
Michael Schreckenberg studierte Theoretische Physik an der Universität zu Köln und hat seit 1997 an der Universität Duisburg-Essen die erste und einzige Professur weltweit für Physik von Transport und Verkehr. Seit über 25 Jahren beschäftigt er sich mit der Analyse, Modellierung, Simulation und Optimierung von Verkehr in großen Netzwerken.
Weitere Informationen:
Nagel-Schreckenberg-Modell: www.bit.ly/2pbRVPk
Stauforschung: Du verursachst Stau. Interview mit Michael Schreckenberg: www.bit.ly/2O81zLs