Skip to content

Was war vor dem Urknall?

Inmitten des Nichts. Kein Licht. Kein Raum. Kein Volumen. Kein Leben. Kein Zeitpfeil. Nur scheinbare Leere. Irgendetwas fluktuiert. Ein unendlich kleiner, dichter, masse­reicher und heißer Punkt zerrt am Nichts. In ihm sind undefinierbare Kräfte gefangen. Warum sich dieses punktförmige Gebilde namens Anfangssingularität urplötzlich in kosmo-archaischer Urzeit im Zuge des Urknalls entzündete und überlichtschnell aufblähte, ist ein genauso großes Mysterium wie die desillusionierende Tatsache, dass kein Wissenschaftler der Gegenwart exakt beschreiben oder berechnen kann, wie das Universum vor diesem kompakten Anfangszustand einst beschaffen war.

Wir wissen nicht, welcher unsichtbare Meisterdirigent in fernster Urzeit den Taktstock schwang, wer damals die Sinfonie komponierte, den kosmischen Konzertsaal baute, das Bühnenbild gestaltete, die Instrumente für den Auftakt des Spektakels heranschaffte. Vielleicht gab es schlichtweg keinen ersten Beweger im aristotelischen Sinne, keine wie auch immer geartete Urkraft, die alles in Gang setzte. Vermutlich währt das Universum gemäß der „Steady State Theory“ einfach schon seit ewigen Zeiten. Womöglich hat der Kosmos weder zeitlich noch räumlich einen Anfang noch ein Ende und existiert somit für alle Zeit – und zu allen Zeiten. Er ist und war einfach da und wird immer sein. Ewige Ewigkeit bis in alle Ewigkeit.

Monopol der Urknalltheorie?

Da mutet es fast schon wie eine Ironie der Wissenschaftsgeschichte an, dass ausgerechnet ein belgischer Geistlicher und ausgebildeter Astronom dem Universum die Ewigkeit nahm. Als Abbé Georges Lemaître im Jahr 1927 seine mathematischen Berechnungen vorstellte, wonach der Kosmos aus einem einzigen ursprünglichen Energiequantum hervorgegangen sein könnte (Uratom), geriet die Steady State Theory ins Wanken. Heute ist die Monopolstellung der Urknall-Hypothese unübersehbar. Trotz einiger Schwächen ist sie auf dem Markt der kosmologischen Theorien nach wie vor „die bei weitem beste Wahl“, wie es einmal der franko-kanadische Astrophysiker Hubert Reeves formulierte. Ihr zufolge entsprang das Universum vor 13,82 Milliarden Jahren quasi aus dem Nichts. Binnen einer Quintillionstel (eine Zahl mit 30 Nullen!) Sekunde blähte sich der Raum aus seiner Anfangssingularität mit unglaublicher Geschwindigkeit (Inflation) um den unvorstellbaren Faktor 1029 auf – weit über die Größe des heute beobachtbaren Universums hinaus. Fast zeitgleich wurde der Raum geformt, Materie generiert und die Richtung des Zeitpfeils vorgegeben. Der Anfangspunkt, an dem dieser Zeitpfeil abgeschossen wurde, die so genannte Planck-Zeit, definiert den mathematisch frühestmöglich erfassbaren Zustand der Welt, wie er 10-43 Sekunden nach dem Urknall gewesen sein könnte. Vor allem aber bildet sie die Grenze der klassischen Beschreibung von Raum und Zeit. Was sich davor zugetragen hat, sprengt den Rahmen der Einstein‘schen Relativitätstheorie, weil diese ein davor nicht beschreibt.

Was war vor dem Urknall?

Seit einigen Dekaden jedoch zeichnet sich innerhalb der Astrophysik und Kosmologie ein subtiler Trend zum Metaphysischen ab. Ehemals futuristische Begriffe wie Wurmlöcher, Paralleluniversen, Strings oder Tunnel avancieren mit einem Mal zu geflügelten Wörtern, die die Fantasien der Wissenschaftler wiederum beflügeln. Auf der Suche nach der „Weltformel“, der Grand Unified Theory (GUT), überschreiten diese immer häufiger die Grenzen von Raum und Zeit und stellen mittlerweile selbst die lange Zeit tabuisierte Frage unverhohlen: Was war vor dem Urknall?
Um die Gesetze des Großen (Raumzeit) und jene des Kleinen (Quanten) in Einklang zu bringen, versuchen Astrophysiker weltweit die Prinzipien der Quantenmechanik mit denen der Allgemeinen Relativitätstheorie zu verschmelzen. Dabei haben sich zahlreiche Pre-Big-Bang-Modelle herauskristallisiert, die sich mit der Ära vor der Planck-Zeit befassen. Es sind Gedankenwelten in direkter Konkurrenz zum populären Urknall-Konzept, die aber ebenfalls untereinander wetteifern. Was alle eint ist jedoch der Umstand, dass sie bislang nur auf dem mathematischen Reißbrett und in den Köpfen ihrer geistigen Urheber Konturen gewonnen haben. Denn anders als bei der Urknall-Theorie können die alternativen Weltentstehungsmodelle nicht mit handfesten Indizien (z. B. Rotverschiebung, Hintergrundstrahlung) punkten. Faszinierend sind sie aber allemal. Nicht zuletzt deswegen, da viele Pre-Big-Bang-Modelle den Faktor Ewigkeit wieder stärker in den Fokus rücken. Schließlich postulieren die meisten dieser Entwürfe zyklische Universen, die sich periodisch aufblähen und dann wieder in sich zusammenfallen.

Zeitstrahl der Ausdehnung des Universums nach dem Urknall

Branenkosmologie

Ein Entwurf stammt aus der Gedankenwerkstatt von Paul J. Steinhardt (Prince­ton University, New Jersey) und Neil Turok (PITP, Ontario/Kanada). Danach wiederholt sich der Urknall schon seit Ewigkeiten immerfort. Nach Ansicht der beiden Physiker leben wir in einer vierdimensionalen Membran, zu der es ein spiegelbildliches Gegenstück gibt: ein Paralleluniversum. In diesem höherdimensionalen Haupt-Universum bildet unser Universum, das eine Raumdimension weniger besitzt, eine Bran (Hyperebene in der vierdimensionalen Raumzeit), wobei die zweite Bran zu besagtem Schattenuniversum gehört. Kollidieren nun diese beiden Branen miteinander, was alle paar Billionen Jahre geschehen soll, entzündet sich ein Urknall, der ein neues Universum kreiert.

Entstehung aus dem Nichts

Die US-Astrophysiker Richard Gott III und Li-Xin Li (Princeton University) hingegen glauben, dass das Universum sich selbst geschaffen hat. „Wir nehmen an, dass das Universum eher aus irgendetwas als aus dem Nichts entstanden ist“, vermutet Richard Gott III. „Dieses Etwas war es selbst.“ Demnach ist der Weltraum wie ein Zeitreisender, der in der Vergangenheit immerfort sein eigener Vater wird, in einer zyklischen Zeitschleife gefangen. Anstatt sich linear durch die Zeit zu bewegen, befindet sich das Universum in einem ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, dem es nicht entrinnen kann.

Kosmologische Evolution

Lee Smolin vom PITP in Ontario/Kanada indes fragt sich, ob es zwischen der Anfangssingularität des Big Bang und der Singularität von Schwarzen Löchern eine qualitative Parallele gibt? Könnte bei beiden Singularitäten ein- und derselbe dichte und heiße Zustand vorherrschen? Entstünde dann nicht hinter jedem Horizont eines Schwarzen Loches ein neues Universum? Inspiriert von diesen Fragen, entwickelte der Physiker 1999 einen ungewöhnlichen Theorieansatz, wonach jedes Schwarze Loch die Eizelle zu einem neuen Universum sein könnte. Jenseits des Ereignishorizonts könnte ein kollabierender Stern aus einem sehr dichten Zustand „an einem bestimmten Punkt“ herausexplodieren und somit eine Umkehrung des Kollapses der Sternmaterie einleiten. Ein potenzieller Beobachter hätte das Gefühl, in einem Bereich zu weilen, „in dem sich alles voneinander wegbewegt“. Dieser expandierende Bereich könnte eine inflationäre Phase durchmachen und sich zu einem neuen Universum aufblähen, das unserem stark ähnelt.

Schleifengravitation

Als vielversprechendste Pre-Big-Bang-­Theo­rie jedoch kommt die Schleifengravitation (Loop-Theorie) daher. Einer ihrer engagiertesten Befürworter ist Martin Bojowald von der Pennsylvania State University. Um hinter die Fassade des Urknalls zu blicken, fokussiert sich der deutsche Astrophysiker auf die Feinstruktur der Raumzeit. Für ihn setzt sich das abstrakte Raumzeit-­Gebilde selbst aus materiellen Bausteinen zusammen: den Raumzeit-­Quanten. Laut Schleifengravitation existieren solche Gebilde nicht wie normale Atome in einem bereits bestehenden Raum, sondern bilden ihn und bauen ihn auf. Sie geben ihm Form, Struktur und Aussehen. Da in der Schleifengravitation der Raum nicht unendlich viel Materie und Energie speichert, verändert die atomare Struktur der Raumzeit bei sehr hohen Energiedichten sogar das Wesen der Schwerkraft. Und zwar dergestalt, dass sie abstoßend wird, ähnlich einem porenreichen, nassen Schwamm, der einmal vollgesogen, das überschüssige Wasser wieder abstößt.
Daher kann unser Universum in kosmischer Urzeit keinen Anfangspunkt durch- und erlebt haben. Vielmehr existierte unser Universum bereits vor dem Big Bang als Spiegeluniversum in einer umgestülpten Zeitdimension. Raum und Zeit waren vor dem Urknall in einer verdrehten Welt gefangen. Der Raum wurde praktisch in sich selbst umgestülpt. „Das kann mit einem ideal kugelförmigen Luftballon veranschaulicht werden, aus dem die Luft entweicht. Übrig bleibt ein leerer Ballon, wobei alle Teile der Hülle aufeinanderstoßen“, erklärt Bojowald. Danach bläht sich der Ballon zwangsläufig wieder zu einer Kugel auf, wobei die vorherigen Innenseiten nun außen sind. Dieser Prozess verläuft zyklisch, wiederholt sich also für alle Ewigkeit.
So gesehen gab es also immer schon etwas und das Nichts nicht. „Das Universum hatte keinen Anfang. Es existierte immer schon.“ Wem das alles aber viel zu abgehoben vorkommt, befindet sich übrigens in bester Gesellschaft. Denn selbst Bojowald hadert mit seinen eigenen Berechnungen: „Ich verstehe die Theorie der Schleifengravitation noch nicht so ganz. Wir müssen noch viel nachrechnen.“

Dr. Harald Zaun


Weitere Informationen

Links

Harald Zaun (2018): Wir Abkömmlinge des Urknalls

Dirk Eidemüller (2016): Was wir über den Urknall wissen

How the Universe Works – From The Big Bang To The Present Day – Space Discovery Documentary

Brandon Keim (2008): Physicist Neil Turok: Big Bang Wasn’t the Beginning

“Der Urknall war nicht der Anfang.” Interview mit Martin Bojowald (2010)

Literatur

Blome, Hans-Joachim und Zaun, Harald (2004): Der Urknall. Beck: München (Neuauflage in Vorbereitung)

Smolin, Lee (2002): Warum gibt es die Welt? dtv: München

Beitrag teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Pinterest
XING
WhatsApp
Email

Ähnliche Beiträge

Header_Entdeckt_02-2023 (3)
27. September, 2023
Der Tag hat noch gar nicht richtig angefangen, da haben wir schon tausend Dinge im Kopf: schnell anziehen, frühstücken, zur Arbeit hetzen … Kaum dort angekommen, füllt sich der Schreibtisch schneller als ein Fußballstadion beim Finale der Weltmeisterschaft. Der Kopierer streikt, das Meeting wurde vorverlegt und der Kaffee ist alle. Nach nur zwei Stunden Arbeit ist man direkt wieder reif für das Bett, weil man letzte Nacht schon wieder kaum geschlafen hat.
MZ-2023_Beitragsbild (1)
15. September, 2023
Digital First, Textverstehen zweitrangig? Der Eindruck könnte entstehen, wenn man das Leseverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit den Ergebnissen der empirischen Leseforschung kontrastiert. Denn die Leseforschung sagt, dass wir anspruchsvolle Sachtexte weniger gut verstehen, wenn wir sie digital lesen. Befragt nach ihren Lesegewohnheiten berichten aber Studierende, dass sie mehr als 80  Prozent ihrer Lesezeiten vor dem Bildschirm verbringen. Belletristik wird hingegen lieber auf Papier gelesen als auf dem E-Reader. Dabei gibt die Leseforschung mit Blick auf die narrativen Texte Entwarnung: Ein Nachteil ist mit der digitalen Lektüre nicht verbunden.
MZ-01-23_Beitragsbild BecksEcke
27. Juni, 2023
Ein raffiniertes Konzept könnte die elementarsten Arbeitsschritte eines Rechners auf eine völlig neue Grundlage stellen – aber das wird voraussichtlich nicht passieren.
MZ-02-23_Beitragsbild (4)
16. Juni, 2023
Viel Glück im neuen Jahr – das sollen die kleinen „Glücksklee“-Blumentöpfe verheißen, die alljährlich zu Silvester auf den Markt kommen. Tatsächlich handelt es sich dabei um Sauerklee (Oxalis tetraphylla) aus Mexiko, bei dem alle Blätter grundsätzlich aus vier Einzelblättchen bestehen. Ein Glücksklee (Trifolium repens) verdient aber seinen Namen gerade dadurch, dass er sich nur mit etwas Glück finden lässt. Die normalen Blätter von echtem Klee bestehen aus drei Blättchen, die fingerförmig angeordnet sind. Daher der wissenschaftliche Gattungsname Trifolium, also Dreiblatt. Bei nur einem von 5.000 Blättern sind vier Blättchen vorhanden – solche Seltenheiten gelten in vielen Kulturen als Glücksbringer. Ob Gene oder Umwelt zu Viererklees führen, wird schon seit Jahrzehnten diskutiert. Der Schlüssel zum Glück(sklee) ist zwar noch nicht gefunden, aber sein Versteck konnte eingegrenzt werden.
MZ-02-23_Beitragsbild
2. Juni, 2023
Frei schwebend vor dem schwarzen Hintergrund des Weltalls leuchtet die blaue Weltkugel: „The Blue Marble“, aufgenommen am 7. Dezember 1972 etwa 29.000 Kilometer entfernt von der Erde von der Crew der Apollo 17 auf dem Weg zum Mond. Die analoge Hasselblad-Mittelformatkamera mit f-2,8/80 mm Festbrennweite von Zeiss bannt die ganze Erde auf ein Bild und zeigt dabei fast ganz Afrika, den Atlantik und den Indischen Ozean mit einem entstehenden Taifun über Indien.
MZ-01-23_Beitragsbild (4)
30. Mai, 2023
In einem spannenden Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin werden Honigbienen zu Verbündeten, um den schädlichen Umwelteinflüssen von Agrargiften auf die Spur zu kommen.
MZ-01-23_Beitragsbild (3)
26. Mai, 2023
Erstmals wurde ein Planetoid beschossen, um seine Umlaufbahn zu verändern. Der Test hat gezeigt, dass sich die Menschheit künftig gegen Meteoriteneinschläge aus dem Weltraum wehren kann.
pay-1036469_960_720
11. Mai, 2023
Warum klettern wir ohne Sauerstoffgerät auf den Mount Everest oder durchsteigen im Winter die Eigernordwand? Warum wollen wir immer schneller laufen, immer höher springen oder eine Kugel immer weiter stoßen? Warum reisen wir zum Nordpol, zum Südpol oder zum Mond? Warum haben die Menschen des Mittelalters gigantische und viel zu große Kirchen gebaut? Es ist nicht leicht, diese Fragen zu beantworten. Rationale Gründe, so etwas zu tun, gibt es nicht. Vielleicht ist es das Erfahren und Hinausschieben der eigenen Grenzen, das den Menschen einen süchtig machenden Kitzel verschafft. Vielleicht ist es auch der Genuss des Ruhms, die oder der Größte, Schnellste, Beste oder Weitestgereiste zu sein.
MZ-01-23_Beitragsbild (2)
28. April, 2023
Fortwährende komplexe Krisenszenarien erfordern von Lehrkräften und Schulen eine stärkere und fächerübergreifende Handlungsorientierung bei der Begleitung von Schüler*innen in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt. Lehrkräfte haben hier eine zentrale Vorbildfunktion, die nicht zuletzt einen konstruktiven und reflektierten Umgang mit den eigenen Belastungen durch kleine alltägliche bis hin zu großen globalen Krisen erfordert.
MZ_2022_04_Heft
14. März, 2023
Biokraftstoff gilt als umwelt- und klimafreundliche Alternative zu fossilen Treibstoffen. Denn weil er aus Pflanzen erzeugt wird, gibt er bei seiner Verbrennung kaum mehr Kohlendioxid ab, als die Pflanzen zuvor bei ihrem Wachstum aufgenommen haben – so jedenfalls die Theorie. Doch gibt es bei der Sache vielleicht einen Haken?
Außerirdisch
7. März, 2023
Was wissen extraterrestrische Intelligenzen von uns, falls es sie gibt? Vielleicht mehr, als uns lieb ist, denn über 2.000 Sterne in der näheren Umgebung haben eine privilegierte Position, von der aus sich die Erde studieren lässt. Zu 75 davon sind bereits irdische Radiosendungen gelangt.
Matheschmerz-Prophylaxe_MT_Beitragsbild
13. Februar, 2023
Youtuber Daniel Jung beschäftigt sich mit „Matheschmerz“, weil Mathe bei vielen Versagensängste hervorruft. Die Psychologin Bettina Hannover berichtet, dass Jugendliche sich vorstellen, dass jemand mit Physik als Lieblingsfach keine Freund*innen hat und unattraktiv aussieht. Und „Digital-kunde“ ist in Deutschland immer noch nicht als Pflichtfach etabliert, obwohl die Diskussion um Web 5.0 schon begonnen hat. MINT-Lehrkräfte haben es wirklich nicht einfach, obwohl diese Kenntnisse für immer mehr Berufe sehr gefragt oder sogar eine Voraussetzung sind.