Streng religiöse Eltern fordern neben der Vermittlung der Evolutionstheorie auch die des Kreationismus oder eine Befreiung ihres Kindes von Teilen des Biologieunterrichts. Andere Eltern verlangen eine noch stärkere Betonung des Umweltschutzes sowie die Förderung einer betont kritischen Haltung zur Chemie im Chemieunterricht. Was bedeutet dies für Lehrerinnen und Lehrer?
Der Erziehungsauftrag des Staates, den das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundgesetz (Artikel 7 Absatz 1 GG) ableitet und der sich aus den Verfassungen der meisten Länder sowie den Schulgesetzen aller Länder ergibt, kann mit dem verfassungsrechtlich garantierten elterlichen Erziehungsrecht (Artikel 6 Absatz 2 GG) und dem Grundrecht der Schüler auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit (Artikel 2 Absatz 1 GG) in Konflikt geraten.
Erziehungskonflikt
Besonders konfliktträchtig sind die gesellschafts- und geisteswissenschaftlichen Fächer. Unter den naturwissenschaftlichen Fächern ist am häufigsten das Fach Biologie betroffen. Mögliche Streitpunkte zwischen Eltern und Schule können die „atheistischen“ Theorien der Physik zur Entstehung des Universums oder die Umweltverträglichkeit der Chemie sein. Neben den Unterrichtsinhalten werden gelegentlich aber auch die Rechtmäßigkeit der Inhalte der Schulbücher und anderer Lernmittel infrage gestellt.
Kein elterliches Bestimmungsrecht
Eltern sowie Schülerinnen und Schüler können niemals die Vermittlung bestimmter Unterrichtsinhalte oder die Vorgabe von ihnen gewünschter Ziele für den Unterricht verlangen. Eltern können daher nicht die Behandlung des Kreationismus oder bestimmte Ziele und Inhalte des Chemieunterrichts einfordern. Sie haben kein Bestimmungsrecht, könnten aber ein Abwehrrecht in Form eines Befreiungsanspruches von bestimmten Unterrichtsphasen haben.
Bildungs- und Integrationsfunktion der Schule
Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer Grundsatzentscheidung den staatlichen Erziehungsauftrag vom elterlichen Erziehungsauftrag und der freien Entfaltung der Schülerinnen und Schüler abgegrenzt. Anlass der Entscheidung war die Vorführung des Films „Krabat“ nach dem Buch von Otfried Preußler im Deutschunterricht. Die Eltern eines Schülers einer 7. Klasse hatten einen Anspruch auf Befreiung ihres Sohnes von der Filmvorführung geltend gemacht, da sie als Zeugen Jehovas alle Berührungspunkte mit Spiritismus und jeglicher Form von Magie meiden müssten. Das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 11.9.2013, Az.: 6 C 12.12) geht von der verfassungsrechtlich durch das Bundesverfassungsgericht anerkannten Bildungs- und Integrationsfunktion der Schule aus. Die Schule soll nicht nur Fachwissen, fachliche Kompetenzen und Fertigkeiten vermitteln, sondern unter den Bedingungen einer pluralistisch und individualistisch geprägten Gesellschaft dazu beitragen, die Einzelnen zu dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewussten Bürgern heranzubilden, und auf diese Weise eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion wahrzunehmen.
Diese Aufgabe könnte die Schule nicht erfüllen, wenn sie auf alle religiösen, weltanschaulichen und kulturellen Überzeugungen Rücksicht nehmen müsste. Eltern sowie deren Kinder müssen daher Beeinträchtigungen religiöser oder anderer Erziehungsvorstellungen als Begleiterscheinung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrages hinnehmen. Das Recht des Staates in der Schule steht also nicht auf derselben Ebene wie das Elternrecht und die Rechte der Schülerinnen und Schüler, sodass in jedem Einzelfall eine Abwägung erforderlich wäre. Der Staat hat ein überwiegendes Recht zur Gestaltung der Inhalte, Methoden und Ziele des Unterrichts.
Es ist auch nicht entscheidend, ob eine sehr umfangreiche oder eine nur sehr begrenzte Befreiung beantragt wird. In dieser Frage war das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, dessen Entscheidung das Bundesverwaltungsgericht aufgehoben hat, anderer Meinung und hatte einen Befreiungsanspruch bejaht, da nur die Befreiung von einer Filmvorführung und nicht von einer längeren Unterrichtsphase beantragt worden war.
Besonders gravierende Beeinträchtigung
Eine Abwägung von staatlichem Bestimmungsrecht und den Grundrechten der Eltern und Schülerinnen und Schüler ist nur erforderlich, wenn die Beeinträchtigung durch die Unterrichtsgestaltung eine besonders gravierende Intensität aufweist. Diese besonders gravierende Intensität setzt voraus, dass ein religiöses Verhaltensgebot aus Sicht der Eltern imperativen Charakter hat. Es muss einen unmittelbaren Bezug zum religiösen Bekenntnis, zur Vornahme kultischer Handlungen oder zur Ausübung religiöser Gebräuche haben. Damit scheiden alle kulturellen oder gar lediglich politischen Gründe von vornherein aus. Eine noch stärkere Betonung des Umweltschutzes und eine besonders kritische Betrachtung der Chemie können Eltern sowie Schülerinnen und Schüler in keinem Fall verlangen.
Abwägung
Der Kreis der religiösen, weltanschaulichen Überzeugungen oder Gewissensgründe ist eng definiert. Einwände gegen die Evolutionstheorie oder Theorien zur Entstehung des Universums weisen keinen unmittelbaren Bezug zu kultischen Handlungen oder religiösen Gebräuchen auf. Man könnte sie aber als den Kern des Bekenntnisses betreffend ansehen, da eine Religion ohne die Überzeugung eines Schöpfergottes kaum denkbar ist. Ein Befreiungsanspruch scheitert dann aber an der grundlegenden Bedeutung dieser Theorien für das fachwissenschaftliche Verständnis und daran, dass dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zufolge Minderheiten sich nicht der Konfrontation mit Unterrichtsinhalten, gegen die sie religiöse, weltanschauliche oder kulturelle Vorbehalte haben, von vornherein verschließen dürfen.
Fazit – Rechtssicherheit für Schulen
Das Bundesverwaltungsgericht hat nahezu jede Möglichkeit der Befreiung vom Unterricht wegen der Unterrichtsinhalte, -methoden oder -ziele aus religiösen, weltanschaulichen oder kulturellen Gründen ausgeschlossen. Das schafft Rechts- und Handlungssicherheit für die Schulen, erfordert aber rechtlich (Neutralitätspflicht) und pädagogisch einen toleranten und sensiblen Umgang mit den religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen der Eltern sowie der Schülerinnen und Schüler.
Dr. Thomas Böhm