Keine Politik ohne Mathematik: Zahlen sind beliebte Argumentationshilfen im Wahlkampf. Wer geschickt mit diesen scheinbar unbestechlichen Fakten jongliert, vermittelt Sachkompetenz und schafft Vertrauen bei den Bürgern. Auf dem Weg ins Parlament zeichnen die Wahlprognosen der Meinungsforschungsinstitute ein gesellschaftliches Stimmungsbild und geben einen Ausblick auf die zukünftigen Lenker des Landes. Und selbst bei der schwierigen Suche nach dem passenden Koalitionspartner sind mathematische Theorien hilfreich.
Zahlen als politische Argumente
Zahlen, wohldosiert in die Wahlkampfrede eingestreut, wirken so unbestechlich und kompetent, dass sie nur selten hinterfragt werden. Um die Alternativlosigkeit des eigenen Standpunktes zu unterstreichen, sind Statistiken und prägnante Kennzahlen deshalb beliebte Argumentationsstützen – nicht nur in Wahlkampfzeiten.
Neu ist diese politische Praxis nicht. Bereits um 1660 versuchte der Ökonom William Petty zu zeigen, dass das Vermögen eines Landes vor allem aus dem Arbeitseinkommen und weniger aus dem Landbesitz besteht. Er selbst war nicht nur ein wacher Geist, sondern auch ein Großgrundbesitzer mit Angst vor hohen Steuern. Seine Empfehlung lautet deshalb, man solle weniger Steuern auf Ländereien erheben, dafür mehr auf das Einkommen. Das war so etwas wie die Geburtsstunde der eigenwilligen Interpretation von Zahlen für politische Ziele.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörten Statistiken und Kennzahlen längst in jeden Argumentations-Werkzeugkoffer eines Politikers. In der Weimarer Republik bestimmten die hitzigen Debatten um die Reparationszahlungen Deutschlands und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen die Wahlkämpfe. Im Zweiten Weltkrieg entstand das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – bis heute eine wichtige Zahl in der Wirtschaftspolitik. Sie beschreibt die Wirtschaftsleistung des Landes und ist die Summe aller im Inland produzierten Waren und Dienstleistungen gemessen an ihrem Preis. In den 1950er Jahren wurde das BIP eine Argumentationsgrundlage der Sozialen Marktwirtschaft von Ludwig Erhard. Der Kanzler mit der Zigarre erkannte die Vorteile: Das BIP bündelt eine hohe Informationsdichte nach transparenten Kriterien und wird in ganz Europa einheitlich erhoben. So weit, so gut: Doch wie jede Berechnungskonvention zeigt auch diese Zahl nur einen Teil der Wirklichkeit. Sie beschreibt die Wirtschaftsleistung, sagt aber nichts über den Wohlstand und die Einkommensverteilung aus. Genau darin liegt eine Schwäche jeder Quantifizierung. Es gibt keine Statistik, die ein umfassendes Bild der Wirklichkeit zeichnet. Das Zählbare steht immer im Vordergrund, das nicht Gezählte oder nicht Zählbare bleibt verborgen. In politischen Debatten sind solche „Schwächen“ oft egal. Viel zu selten widmen wir uns als mündige Bürger mit geschultem Blick den offensichtlichen Widersprüchen in der Zahlen-Argumentation. Die Folge: Mit fragwürdigen Rankings, irreführenden Durchschnittswerten und willkürlichen Prozentangaben lässt sich die öffentliche Meinung wunderbar beeinflussen.
Die ersten Hochrechnungen gibt es um 18:00 Uhr
Auch an diesem Wahlsonntag wird Jörg Schöneborn Punkt 18:00 Uhr vor die Kameras der Wahlsondersendungen treten. Zu diesem Zeitpunkt haben die ersten Wahllokale gerade erst geschlossen. Es wurde noch kein einziger Stimmzettel ausgezählt. Trotzdem ist die Prognose des Abends verdammt genau. Das klappt nur dank monatelanger Vorbereitung. Das Meinungsforschungsinstitut infratest dimap wählt dafür im ersten Schritt repräsentative Wahllokale für die Stichprobe aus. Bei letzten Bundestagswahl 2013 gab es in Deutschland 80.000 Wahlbezirke. In 640 davon wurden am Wahltag Menschen an den Urnen mit einem anonymen Fragenbogen befragt. Die Wahlbezirke werden sorgfältig ausgesucht. Sie sind gut über die Bundesländer, Städte und Dörfer verteilt. Sie dürfen sich in den letzten Jahren demographisch und geografisch nur wenig verändert haben. Außerdem müssen die lokalen Ergebnisse der letzten Wahl möglichst nah am bundesweiten Ergebnis liegen – weniger als 0,1 Prozentpunkte pro Partei sind erlaubt. Sind die Bezirke ausgewählt, beginnen die Befrager von infratest dimap am Wahlmorgen mit der Arbeit. Insgesamt werden 100.000 Wähler gebeten, anonym einen Fragenbogen auszufüllen und ihre Erst- und Zweitstimmte darin nochmal abzugeben. Diese Daten werden laufend an das Hauptstadt-Büro weitergegeben und dort verarbeitet. So gibt es um 18:00 Uhr eine Wahlprognose auf allen Sendern. Das amtliche Endergebnis des Bundeswahlleiters kommt erst um Zwei Uhr in der Nacht. Die durchschnittliche Abweichung zwischen Prognose und diesem Ergebnis ist übrigens äußerst gering und liegt je Partei bei nur 0,5 Prozentpunkten.
Mit Spieltheorie am Verhandlungstisch
Nach den Wahlen treffen sich die Parteien am Verhandlungstisch. Der Erfolg bei den Koalitionsgesprächen hängt vom eigenen Verhandlungsgeschick und den Plänen des Gegenübers ab. Bei der Vorbereitung schlägt die Stunde der Spieltheorie. Sie versucht das menschliche Verhalten bei Verhandlungen und Konflikten mathematisch zu beschreiben. Davon erhoffen sich die Parteien Erkenntnisse darüber, welches Risiko sich einzugehen lohnt und wie das optimale Ergebnis erzielt werden kann. Mathematik-Genie und Spieltheoriker John Nash soll die US-Regierung in der Kubakrise beraten haben. Inwieweit sich John F. Kennedy am Ende auf die Mathematik verlassen hat, lässt sich heute nur schwer sagen. Aber Nash zeigte immerhin, dass in verfahrenen Situationen die Kooperation oft die beste Strategie ist. Doch blicken wir zurück an den Verhandlungstisch.
Zwei Volksparteien mit verschiedenen Meinungen verhandeln über eine wichtige politische Entscheidung. Im Laufe der Gespräche lassen sich gleich mehrere Szenarien der Spieltheorie ausmachen – zum Beispiel das Feigling-Spiel. Zwei Halbstarke fahren auf der Landstraße aufeinander zu, und wer zuerst ausweicht, verliert. Weicht keiner aus, sind beide tot. Eine andere bewährte Strategie ist „Coercive deficiency“. Dabei hat eine Partei von vornherein die schwächere Position und steigert diese Schwäche im Laufe der Verhandlungen noch, um moralische Zugeständnissen zu erzwingen. Auch das Millionen-Spiel würde viele politische Verhandlungen erklären. Zwei Parteien verhandeln dabei über die Aufteilung von einer Million Euro. Um zu gewinnen, muss man sein Gegenüber überzeugen, dass man alle Angebote mit weniger als 700.000 Euro ablehnt. Das Gegenüber scheut im besten Fall einen Konflikt, bei dem beide Seiten verlieren, und nimmt das Angebot an. 300.000 Euro sind besser als nichts. Allerdings sind das nur simple Beispiele.
Spieltheorie und Koalitionsverhandlungen
Die spieltheoretische Beschreibung von Koalitionsverhandlungen ist deutlich komplexer. Es wird eine Übersicht von Vorteilen und Nachteilen erstellt: Wenn die CDU diesen Schritt ginge, reagierte die SPD mit dem jeweils anderen Schritt. Schnell entsteht eine Entscheidungsmatrix von 2.000 mal 2.000 Feldern. Die Kanzlerin erhält eine genaue Anleitung mit Entscheidungsketten. „An diesem Punkt musst du ein Zugeständnis machen, hier auf dein Recht bestehen, weil wir wissen, dass der Koalitionspartner hier nachgeben wird.“ Eine Garantie für die Richtigkeit gibt es bei den mathematischen Modellen natürlich nicht. Höchstens den Kern der Realität kann die Spieltheorie beschreiben. Das Geschehen am echten Verhandlungstisch ist viel komplexer als jede Matrix.
Birk Grüling
Linktipps
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Bochumer Ökonom Thomas Bauer und der Dortmunder Statistiker Walter Krämer regelmäßige fragwürdige Statistiken aus der öffentlichen Dikussion.
www.rwi-essen.de/unstatistik
Wichtige Zahlen zu politischen Debatten bietet auch die Bundeszentrale für politische Bildung.
www.bpb.de/nachschlagen/
Literaturtipps
Gerd Bosbach (2012): Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden. München: Heyne Verlag
Rudolf Taschner (2015): Die Mathematik des Daseins: Eine kurze Geschichte der Spieltheorie. München: Carl Hanser Verlag
Redaktion Weltalmanach (2016):
Der neue Fischer Weltalmanach 2017:
Zahlen Daten Fakten. Frankfurt a. M.:
Fischer Verlag