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Anthropozän und Artenvielfalt

Der Mensch greift seit langem in die Natur ein. Inzwischen sprechen nicht nur Klimaforscher von einem neuen Erdzeitalter – dem „Anthropozän“. Diese „Menschenzeit“ könnte zu einem Wendepunkt in der Erdgeschichte werden, dem möglicherweise viele, auch noch unentdeckte Arten zum Opfer fallen. 

Die Frage, wie im Verlauf der Evolution immer wieder neue Lebensformen und neue Arten entstehen, hat seit dem 19. Jahrhundert viele Naturforscher umgetrieben. Nach wie vor gehören die Erklärung und Erforschung der Entstehung biologischer Vielfalt und Vielgestaltigkeit, der Biodiversität, zu den großen wissenschaftlichen Zukunftsthemen. Denn wir haben innerhalb einer Generation einen Großteil aller natürlichen Lebensräume zerstört, allen voran riesige Flächen des tropischen Regenwalds, aber auch in den Meeren und Gewässern an Land. Dadurch verlieren wir einen erheblichen Teil auch solcher Arten, von deren Existenz wir lange Zeit nicht einmal etwas geahnt haben. Mit ihrem Verschwinden vernichten wir zugleich unsere eigene Lebensgrundlage, ohne dass die meisten Menschen dies bislang realisieren.

Entstehung des Begriffs Biodiversität

Wenn wir vom Schutz der Biodiversität reden, dann verdanken wir dies dem amerikanischen Naturforscher Edward O. Wilson. Bereits in den 1960er bzw. 1970er Jahren war Wilson der Altmeister der Biogeographie und der Soziobiologie. Als ob das nicht genug für ein Forscherleben wäre, verschafft er seit Ende der 1980er Jahre dem von ihm durch das Zusammenziehen von „biological diversity“ geprägten Begriff immer mehr Gewicht. Der Mensch mache sich die Erde untertan: Dieser (fatale) biblische Arbeitsauftrag umspannte bald die ganze Welt. Inzwischen ist es vielerorts mit der Natur vorbei. Wir müssen uns weltweit vom Konzept einer unberührten Natur verabschieden. Allerorten und seit langem wird die Natur schon vom Menschen geformt und überformt, sei es durch die Anlage von Reisfeldern oder der Rodung ganzer Landstriche. Natur wurde zur Kulturlandschaft, jüngst zur indus­tri­a­li­sier­ten Agrarlandschaft. Die Erde bekommt ein immer menschlicheres Gesicht – schöner wird sie dadurch nur selten. Der Mensch hinterlässt deutliche Spuren auf der Erde, sodass unser Alltag den Verlauf der Geschichte der Erde beeinflusst.

Anthropozän – die Menschenzeit

Forscher haben der Tatsache, dass der Mensch zum prägenden geologischen und globalen Faktor geworden ist, einen erdgeschichtlichen Namen gegeben. Als Erster hat der niederländische Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger von 1995, Paul Crutzen, diese neue Epoche ausgerufen. Gemeinsam mit dem Süßwasserbiologen Eugene Stoermer prägte er im Jahre 2000 den Begriff „Anthropozän“ – oder wörtlich: das menschlich gemachte Neue. Die Bezeichnung einer gegenwärtigen „Menschenzeit“ wurde bald von anderen aufgegriffen und brachte so zuvor meist getrennte Themen wie Ökologie und Ökonomie, Klima und Demografie, miteinander in Kontakt.

Lange wurde die Debatte um das An­thro­po­zän als ein eigenes, vom Menschen massiv beeinflusstes Erdzeitalter, vor allem von Klimaforschern, Chemikern, Physikern und Geologen propagiert. Sie sehen die inzwischen mehr als sieben Milliarden Menschen als den dominierenden Faktor einer sich erwärmenden Erde. Sie glauben, dass das Holozän genannte Zeitalter mit seinen stabilen Klimaverhältnissen an sein Ende gelangt sei und wir in einen neuen Abschnitt der Erdgeschichte eingetreten sind. Im August 2016 wurde das Anthropozän schließlich von einer internationalen Geologen-Kommission als strikter geologischer Terminus offiziell für wissenschaftlich verbindlich vorgeschlagen. Sein Beginn wurde auf Mitte des 20. Jahrhunderts angesetzt, als mit dem erstmaligen Einsatz der Atombombe 1945 ein dauerhaftes geochemisches Signal global wahrnehmbar wurde.

Tatsächlich sind weite Teile der Erdoberfläche – zirka die Hälfte bis zu drei Viertel der eisfreien Landoberfläche – nicht mehr im ursprünglichen Zustand. Als Beispiel lässt sich etwa der von den Römern abgeholzte Mittelmeerraum anführen, oder der Aralsee, der austrocknet, weil mit seinem Wasser die Baumwollfelder der kasachischen Steppe bewässert werden. Vor allem aber schwinden tropische Regenwälder in beängstigendem Maße – und mit ihnen ein Großteil der biologischen Vielfalt der Erde. Flussregulierung und Dämme sind allgegenwärtig, mehr als die Hälfte des auf der Erde verfügbaren Süßwassers wird inzwischen vom Menschen genutzt. Und den Meeren entzieht der Mensch durch Fischerei rund ein Drittel der Primärproduktion. Ein Großteil der genutzten Pflanzen geht heute auf landwirtschaftliche Züchtungen zurück und 90 Prozent der Biomasse werden von Haus- und Nutztieren des Menschen gestellt. Demnach sind heute die häufigsten lebenden Säugetiere vor allem Rinder, Schweine, Ziegen. Anders ausgedrückt: Wo in der Natur der letzte asiatische Tiger ums Überleben kämpft, tummeln sich in Stadt und Land Hunderttausende Hauskatzen.

Das sechste Massensterben

Nur wenige Wissenschaftler sehen in der neu angebrochenen Menschenzeit auch Chancen. Diesen „Anthropozän-Enthusias­ten“ hat E. O. Wilson unlängst eine eloquente Absage erteilt. In seinem jüngsten Buch „Half-Earth. Our Planet’s Fight for Life“ fordert er die Hälfte der Erde für den Naturschutz auszuweisen, wenn wir die biologische Vielfalt erhalten und ein apokalyptisches Artensterben aufhalten wollen. Bisher haben sich in der „Convention on Biological Diversity“ (CBD) 196 Länder verpflichtet, immerhin 17 Prozent der Fläche an Land und zehn Prozent in den Ozeanen unter Schutz zu stellen. Faktisch sind derzeit 15 bzw. 2,8 Prozent geschützt. Ohne das hochambitionierte Ziel einer halben Erde für den Artenschutz werde, so Wilson, nach fünf erdgeschichtlich-natürlichen Massensterben ein Großteil der heutigen Tiere und Pflanzen einem sechsten, diesmal menschengemachten Exodus innerhalb weniger kommender Jahrzehnte zum Opfer fallen.

Ehrgeizige Ziele hat sich die Menschheit oft gesetzt, nur selten werden sie erreicht. Man denke nur an die Klimaziele. Aber während derzeit alle vom Klimawandel reden, schwinden weltweit die Lebensräume – und mit ihnen immer mehr Arten: vom Blauwal bis zum Bärtierchen, vom Hai bis zur Hummel. Die sich exponentiell fortpflanzende Menschheit hat insbesondere im 20. Jahrhundert die Zerstörung ihrer natürlichen Umwelt auf fatale Weise wirkungsvoll vorangetrieben. Unser kollektives Sündenregister ist lang. Lässt sich eine globale Umwelt-Krise noch abwenden?

Die evolutionäre Eintagsfliege Homo sapiens

Angesichts des tief eingeprägten ökologischen Egoismus der evolutionären Eintagsfliege namens Homo sapiens mag Wilsons Vorschlag einer „Half Earth“ ebenso naiv-utopisch wie verzweifelt erscheinen. Prognosen gehen für das Ende dieses Jahrhunderts von zehn Milliarden Menschen aus. Wie soll deren Lebensstandard aussehen, was werden sie essen und trinken, wie werden sie wohnen? Angesichts unvermindertem Bevölkerungswachstum als Hauptursache weltweiter ökologischer Probleme und gleichzeitig steigendem Ressourcenverbrauch können wir nicht ernsthaft hoffen, dass sich Regenwälder und Riffe, Meere und Mangroven, Flüsse und Seen nachhaltig und in hinreichend großem Stil werden schützen lassen – einschließlich der darin lebenden Artenfülle. Um die weltweite Biodiversitätskrise zu bewältigen, muss das Artensterben zuerst einmal in den Köpfen der Menschen und in der Politik ankommen. Die aber sind vollauf mit dem eigenen kurzfristigen Überleben beschäftigt. Über basale biologische Grundkenntnisse verfügt eine vergleichsweise kleine Minderheit; für nachhaltigen Naturschutz ist kaum Platz. Nun sogar die eine Hälfte der Erde allen anderen Arten zu überlassen, das liegt nicht in der Natur des Homo sapiens. Anstatt die Erde zu schützen, verschwenden wir Milliarden etwa für Missionen zum Mars, um nach Spuren historischen Wassers und Lebens zu suchen, während wir weiterhin die Vielfalt des Lebens, ihre Fülle und Faszination hier auf Erden ignorieren. So vernichtet die Menschheit ihr natürliches Kapital. Die Biodiversitäts-Krise frisst ihre Kinder!

Prof. Dr. Matthias Glaubrecht

Literatur

Vince, G. 2016. Am achten Tag. Eine Reise in das Zeitalter des Menschen. Theiss Verlag / WBG, Darmstadt.
Wilson, E. O. 2016. Half-Earth. Our Planet’s Fight for Life. Liveright, W.W.Norton & Co., New York.

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