Skip to content

Demokratie bei den Bienen

Das Zusammenwirken im Bienenvolk ist außerordentlich komplex, flexibel und nicht hierarchisch gesteuert. Wie aber kann dann die Willensbildung und Kommunikation bei der Lösung von Problemen stattfinden?

Der Neurobiologe und Verhaltensforscher Thomas Seeley hat nachweisen können (The wisdom of the hive, the social physiology of honey bee colonies – 1995), dass es keine hierarchische Strukturen im Superorganismus Bienenvolk gibt. Er untersuchte den kollektiven Entscheidungsprozess des Bienenschwarms bei der Suche nach einer neuen Bienenwohnung und konnte zeigen, dass das außerordentlich komplexe Verhalten der Bienen den wechselnden Erfordernissen des Gesamtorganismus folgt, es ist nicht hierarchisch gesteuert und nicht allein an eine genetisch programmierte Abfolge von Drüsentätigkeiten gebunden.

Entscheidungsprozesse bei der Suche  nach einer neuen Bienenwohnung

Entscheidungsprozesse bei der Suche  nach einer neuen Bienenwohnung Bienenvölker nisten in unseren Breiten natürlicherweise in hohlen Bäumen. Geht es dem Volk im Frühjahr besonders gut, teilt es sich, und ein sogenannter Schwarm zieht aus. Das übrige Volk lebt weiter wie bisher. Etwa 15.000 Bienen und ihre Königin verlassen mit großem Brausen den Nistplatz des Volkes und sammeln sich in der Nähe an einem Ast als Schwarmtraube. Das ist die Geburt eines neuen Bienenvolkes.

Schwärmen bedeutet Risiko

Der Schwarm geht dabei ein existenzielles Risiko ein. Denn er lässt sein Wabenwerk mit den Honigvorräten und der Brut zurück. Die Bienen haben sich zwar mit Honig gesättigt, aber das reicht nur für drei Tage. Innerhalb dieser Zeit muss der Schwarm ein neues Zuhause finden, andernfalls sterben die Bienen. Diese wichtige Aufgabe wird wenigen hundert Spurbienen oder Scouts anvertraut. Dies sind erfahrene ältere Bienen, die die Landschaft genau kennen. Der Schwarm sendet seine Scouts in alle Himmelsrichtungen aus. In einem Radius von bis zu fünf Kilometer suchen sie unabhängig voneinander nach Nistplätzen.

Bewertung der Nistplätze

In Betracht kommende Hohlräume werden genauestens inspiziert. Im Laufe der Evolution haben sich eine Reihe von vorteilhaften Merkmalen für die Nistplätze ergeben. Die Untersuchungen von Seeley zeigen ein Ranking bei bestimmten Parametern. So wird ein Volumen von 40–60 Litern als optimal bewertet, eine Höhe von mehr als zwei Metern über dem Erdboden und eine Größe des Flugloches von etwa zehn Quadratzentimetern. Die Lage des Fluglochs hingegen spielt keine Rolle. Alle Aspekte der Untersuchung führt die Kundschafterin zu einer Gesamtbewertung der möglichen Nisthöhle zusammen.

Objektive und subjektive Bewertung

Bienen, die einen potenziellen Nistplatz entdeckt haben, fliegen zur Schwarmtraube zurück und werben mit Tänzen für den Platz. Im Tanz sind Himmelsrichtung und Entfernung des Nistplatzes verschlüsselt. Darüber hinaus bringen sie mit der Intensität ihres Tanzes eine zusammenfassende Bewertung des Nistplatzes zum Ausdruck. Die genetisch verankerten Kriterien werden getrennt erfasst. So kann z. B. ein zu großes Volumen zum Ausschluss führen. So erfolgt die Bewertung gewissermaßen „objektiv“ nach genetischen Kriterien. Die Kundschafterin bringt aber auch beim Tanz mit ihrer Intensität eine zusammenfassende subjektive Gesamtbewertung zum Ausdruck.

Auswahl

Die Kundschafterin ist wie ein Sinnesorgan des Schwarms, das die Qualität des Nistplatzes in die Stärke des Tanzsignals übersetzt. Manche der Scouts folgen solcher Einladung, andere lassen sich nicht verlocken, sondern gehen selbst auf Forschungsreise. Rekrutierte Bienen geben sich aber auch nicht mit der Bewertung ihrer Schwestern zufrieden. Sie führen eine eigene Untersuchung durch und kommen durchaus auch zu abweichenden Bewertungen, die sie wiederum durch die Intensität der eigenen Tänze bewerben. Die Scouts sind auch insofern autonom, dass sie entscheiden, ob sie selbst auf eigene Faust suchen oder den Vorschlägen anderer folgen. Und nachdem sie einen Platz eine Zeitlang beworben haben, können sie auch auf die Idee kommen, einen besseren zu suchen. Anschließend werben sie für einen Platz mit einer eigenen Gesamtbewertung. Auf diese Weise gewinnt das
„Gemeinwesen“ Kenntnis von vielen Nistmöglichkeiten. Durch die Autonomie der Individuen und deren gleichzeitiger Suche ergeben sich Alternativen. Allerdings ist keines der Individuen in der Lage, die Alternativen zu überschauen und selbst die beste Wahl zu treffen.

„Jungfernbau“ – die anfangs schneeweißen Naturwaben des Schwarmes in der neuen Nisthöhle

Wie entsteht aus Konkurrenz und  tanzender Diskussion die Einigung?

Die Scouts haben eine Eigenschaft, die der Schlüssel zum Erfolg ist: Sie kritisieren nicht, sie bewerten nur selbst und drängen sich mit ihrer Bewertung niemandem auf. Denn auch für außergewöhnlich gute Plätze tanzen sie nur wenige Male. Und dabei lässt die Intensität der Bewerbung von gewissen Nistplätzen kontinuierlich nach, bis sie einfach aufhören. Das gilt auch für sehr gute Plätze. Sie werden nicht aufgedrängt. Dadurch erfolgt die Bewertung im Ganzen nicht zu schnell. Schwache Tänze bewirken ohnehin wenig oder keine nachfolgenden Tänzerinnen. Sie verlaufen schneller im Sande und stören nicht beim Entscheidungsprozess. Auf diese Weise vollzieht sich der Prozess nicht zu schnell, und Alternativen können tatsächlich entwickelt werden.
Die Fokussierung auf gute Stellen erfolgt dadurch, dass mehr Kundschafterinnen für einen Ort aktiv werden. Im Laufe der Zeit schälen sich über positive Rückkopplung Favoriten heraus.

Entscheidungsfindung vor Ort

Aufregend ist es nun, wie die Entscheidung herbeigeführt wird. Sie erfolgt nicht auf der Schwarmtraube, sie fällt an dem Ort, um dessen Bewertung es geht. Die Scouts fliegen wiederholt zu ihren guten Nistplätzen, gehen immer wieder hinein und fliegen um sie herum. Dadurch versammeln sich an einem favorisierten Platz immer mehr Kundschafterinnen. Sie achten darauf, wie viele von ihnen anwesend sind. Die Entscheidung erfolgt durch die gegenseitige Wahrnehmung bei der Bewertung der Lösung. Überschreitet die Zahl der Befürworterinnen ein gewisses Quorum, entsteht ein tragfähiger Konsens. Die Entscheidung führt zu einer abrupten Änderung ihres Verhaltens. Sie fliegen alle zum Schwarm zurück und erzeugen Pfeiftöne, mit denen der Schwarm aufgefordert wird, sich aufzuheizen, um sich für den Abflug vorzubereiten. Scouts, die für Alternativen getanzt hatten, stellen dies nun ein und orientieren sich an dem gewählten Platz. Nach etwa einer Stunde wird durch sogenannte Schwirrläufe der Kundschafterinnen der Impuls gesetzt, den Verband der Traube aufzulösen und sich als Wolke in die Luft zu erheben. Das Volk ist auf dem Weg zu seinem neuen Nistplatz.

Thomas Radetzki


Über den Autor:

Thomas Radetzki ist Initiator und Vorstand der Aurelia  Stiftung und als „Bienenbotschafter“ bekannt. Er war  maßgeblich an der Entwicklung der Richtlinien für ökologische Bienenhaltung in  Deutschland und der EU beteiligt und ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der deutschen  bienenwissenschaftlichen Institute.

Literaturtipps zum Thema: 

Thomas Radetzki/  Matthias Eckoldt: Inspiration Biene erscheint Ende 2019. Sichern Sie sich  Ihr kostenloses   Exemplar unter: https://dev-mintzirkel.www92.pxia.de/unterrichtspraxis/inspiration-biene-das-sachbuch-bestellformular/

Beitrag teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Pinterest
XING
WhatsApp
Email

Ähnliche Beiträge

Header_Entdeckt_02-2023 (3)
27. September, 2023
Der Tag hat noch gar nicht richtig angefangen, da haben wir schon tausend Dinge im Kopf: schnell anziehen, frühstücken, zur Arbeit hetzen … Kaum dort angekommen, füllt sich der Schreibtisch schneller als ein Fußballstadion beim Finale der Weltmeisterschaft. Der Kopierer streikt, das Meeting wurde vorverlegt und der Kaffee ist alle. Nach nur zwei Stunden Arbeit ist man direkt wieder reif für das Bett, weil man letzte Nacht schon wieder kaum geschlafen hat.
MZ-2023_Beitragsbild (1)
15. September, 2023
Digital First, Textverstehen zweitrangig? Der Eindruck könnte entstehen, wenn man das Leseverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit den Ergebnissen der empirischen Leseforschung kontrastiert. Denn die Leseforschung sagt, dass wir anspruchsvolle Sachtexte weniger gut verstehen, wenn wir sie digital lesen. Befragt nach ihren Lesegewohnheiten berichten aber Studierende, dass sie mehr als 80  Prozent ihrer Lesezeiten vor dem Bildschirm verbringen. Belletristik wird hingegen lieber auf Papier gelesen als auf dem E-Reader. Dabei gibt die Leseforschung mit Blick auf die narrativen Texte Entwarnung: Ein Nachteil ist mit der digitalen Lektüre nicht verbunden.
MZ-01-23_Beitragsbild BecksEcke
27. Juni, 2023
Ein raffiniertes Konzept könnte die elementarsten Arbeitsschritte eines Rechners auf eine völlig neue Grundlage stellen – aber das wird voraussichtlich nicht passieren.
MZ-02-23_Beitragsbild (4)
16. Juni, 2023
Viel Glück im neuen Jahr – das sollen die kleinen „Glücksklee“-Blumentöpfe verheißen, die alljährlich zu Silvester auf den Markt kommen. Tatsächlich handelt es sich dabei um Sauerklee (Oxalis tetraphylla) aus Mexiko, bei dem alle Blätter grundsätzlich aus vier Einzelblättchen bestehen. Ein Glücksklee (Trifolium repens) verdient aber seinen Namen gerade dadurch, dass er sich nur mit etwas Glück finden lässt. Die normalen Blätter von echtem Klee bestehen aus drei Blättchen, die fingerförmig angeordnet sind. Daher der wissenschaftliche Gattungsname Trifolium, also Dreiblatt. Bei nur einem von 5.000 Blättern sind vier Blättchen vorhanden – solche Seltenheiten gelten in vielen Kulturen als Glücksbringer. Ob Gene oder Umwelt zu Viererklees führen, wird schon seit Jahrzehnten diskutiert. Der Schlüssel zum Glück(sklee) ist zwar noch nicht gefunden, aber sein Versteck konnte eingegrenzt werden.
MZ-02-23_Beitragsbild
2. Juni, 2023
Frei schwebend vor dem schwarzen Hintergrund des Weltalls leuchtet die blaue Weltkugel: „The Blue Marble“, aufgenommen am 7. Dezember 1972 etwa 29.000 Kilometer entfernt von der Erde von der Crew der Apollo 17 auf dem Weg zum Mond. Die analoge Hasselblad-Mittelformatkamera mit f-2,8/80 mm Festbrennweite von Zeiss bannt die ganze Erde auf ein Bild und zeigt dabei fast ganz Afrika, den Atlantik und den Indischen Ozean mit einem entstehenden Taifun über Indien.
MZ-01-23_Beitragsbild (4)
30. Mai, 2023
In einem spannenden Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin werden Honigbienen zu Verbündeten, um den schädlichen Umwelteinflüssen von Agrargiften auf die Spur zu kommen.
MZ-01-23_Beitragsbild (3)
26. Mai, 2023
Erstmals wurde ein Planetoid beschossen, um seine Umlaufbahn zu verändern. Der Test hat gezeigt, dass sich die Menschheit künftig gegen Meteoriteneinschläge aus dem Weltraum wehren kann.
durchblickt-Fortbildung-KlettMint-Header-Blog
Gesponserte Inhalte
25. Mai, 2023
DURCHBLICKT! unterstützt Lehrerinnen und Lehrer dabei, mehr digitale Gesundheitskompetenz und einen sicheren Umgang mit digitalen Medien in den Unterricht zu integrieren. Auf dieser Grundlage fördern sie künftige Generationen selbstbestimmt und mit den Möglichkeiten der digitalen Welt über die eigene Gesundheit zu entscheiden. Neben direkt einsatzbereiten Unterrichtsmaterialien gibt es jetzt auch exklusive Live-Fortbildungen vor Ort! Jetzt mehr erfahren und anmelden!
pay-1036469_960_720
11. Mai, 2023
Warum klettern wir ohne Sauerstoffgerät auf den Mount Everest oder durchsteigen im Winter die Eigernordwand? Warum wollen wir immer schneller laufen, immer höher springen oder eine Kugel immer weiter stoßen? Warum reisen wir zum Nordpol, zum Südpol oder zum Mond? Warum haben die Menschen des Mittelalters gigantische und viel zu große Kirchen gebaut? Es ist nicht leicht, diese Fragen zu beantworten. Rationale Gründe, so etwas zu tun, gibt es nicht. Vielleicht ist es das Erfahren und Hinausschieben der eigenen Grenzen, das den Menschen einen süchtig machenden Kitzel verschafft. Vielleicht ist es auch der Genuss des Ruhms, die oder der Größte, Schnellste, Beste oder Weitestgereiste zu sein.
MZ-01-23_Beitragsbild (2)
28. April, 2023
Fortwährende komplexe Krisenszenarien erfordern von Lehrkräften und Schulen eine stärkere und fächerübergreifende Handlungsorientierung bei der Begleitung von Schüler*innen in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt. Lehrkräfte haben hier eine zentrale Vorbildfunktion, die nicht zuletzt einen konstruktiven und reflektierten Umgang mit den eigenen Belastungen durch kleine alltägliche bis hin zu großen globalen Krisen erfordert.
coding-1853305_960_720
3. April, 2023
Vor zehn Jahren gründete ein französischer Tech-Milliardär die Programmierschule 42 – ohne Lehrkräfte, Noten und Stundenpläne: 42 Heilbronn. Mittlerweile gibt es 15.000 Studierende weltweit. Ein Besuch an einem deutschen Standort.
MZ_2022_04_Heft
14. März, 2023
Biokraftstoff gilt als umwelt- und klimafreundliche Alternative zu fossilen Treibstoffen. Denn weil er aus Pflanzen erzeugt wird, gibt er bei seiner Verbrennung kaum mehr Kohlendioxid ab, als die Pflanzen zuvor bei ihrem Wachstum aufgenommen haben – so jedenfalls die Theorie. Doch gibt es bei der Sache vielleicht einen Haken?