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„One, two, three“: So ähnlich klingen die Laute eines Orcas über das Unterwasser-Mikrofon – mit „Zählen“ hat das natürlich nichts zu tun. Auch „Wundertiere“ wie das Pferd „Kluger Hans“ (um 1900) konnten nicht wirklich zählen oder rechnen, sondern nur sehr gut auf die Erwartungshaltung ihres Trainers reagieren. Trotzdem sind Zählen und Schätzen keine typisch menschlichen Fähigkeiten – auch Tiere können „mehr“ von „weniger“ unterscheiden, also die Anzahl von Objekten oder Tönen vergleichen. Dieser Zahlensinn bedeutet für Tiere eine Reihe evolutiver Vorteile.

Menschen kommen nicht ohne Zahlen aus. Aber sind diese Zahlen im Wortsinn „natürlich“ und können auch Tiere damit umgehen? Basieren unsere kulturell erworbenen Rechenfähigkeiten auf einem stammesgeschichtlich ererbten Zahlensinn?

Abzählbare und nicht-abzählbare Quantitäten

Verhaltensexperimente zeigten schon im letzten Jahrhundert, dass Vögel durchaus einen Zahlensinn vorweisen. Auf Futterbelohnung dressierte Dohlen und Tauben konnten an Punktetafeln die Anzahl 1 von 2 und 3 von 4 unterscheiden, Kolkraben sogar maximal 6 von 7, Graupapageien 7 von 8. Legt man Menschen entsprechende Punktetafeln vor, gibt ihnen aber keine ausreichende Zeit zum Durchzählen, erreichen sie ähnliche Werte von höchstens 7 bis 9. Das lässt sich mit Schülerinnen und Schülern im Unterricht einfach testen. Soll bei Punktetafeln lediglich zwischen „mehr“ und „weniger“ unterschieden, also eine Reihung der Quantitäten vorgenommen werden, kommen Versuchstiere und Menschen ebenfalls zu vergleichbaren Ergebnissen: Ein großer Unterschied (wie zwischen 3 und 10) wird schneller und exakter erkannt als ein kleiner (wie zwischen 3 und 5 Punkten). Außerdem wird die Reihung von 30 und 50 Punkten etwa genauso gut erkannt wie die von 3 und 5, aber deutlich besser als die von 30 und 32. Eine Differenz von 2 reicht bei geringen Quantitäten also zur Unterscheidung aus, aber nicht bei großen Mengen. Es hängt vom zahlenmäßigen Verhältnis und nicht von der absoluten Differenz der Quantitäten ab, wie schnell und exakt sie sich unterscheiden lassen. Die Zähl-Skala in der Wahrnehmung ist also nicht linear, sondern logarithmisch aufgebaut. Diese Ergebnisse folgen dem psychophysischen Weber-Fechner-Gesetz: Sinnesorgane passen sich in ihrer Ansprechempfindlichkeit an die Werte der aktuellen Umgebung an. Dadurch ist letztlich gewährleistet, dass ein Lichtsinnesorgan gleiche Objekte bei unterschiedlicher Umgebungshelligkeit wiedererkennt.

Anpassungswert eines Zahlensinns

Es gibt viele Beispiele für einen Zahlensinn in den verschiedensten Tierstämmen. Sogar Insekten sind in der Lage, Anzahlen zu unterscheiden – wenn es für sie einen Anpassungswert bedeutet. Die Wahrnehmung und Unterscheidung von Quantitäten findet aber nicht nur auf visueller Ebene statt, sie kann auch durch akustische Reize ergänzt oder ersetzt werden.

  • Hühnerküken folgen eher einer größeren als einer kleineren Anzahl von Nestgenossen. Auf diese Weise bleibt die Familie zusammen und ist besser geschützt.
  • Soziale Säugetiere schätzen die Anzahl von Konkurrenten, sie entscheiden bei eigener Überzahl auf Kampf, bei Unterzahl auf Flucht.
  • Weibliche Frösche erkennen die Fitness von Männchen an deren Ausdauer beim Quaken. Für ein Männchen ist es also vorteilhaft, mindestens einmal mehr als der Konkurrent zu quaken, und für ein Weibchen, das auch zu bemerken.
  • Ein einzelner Fisch ist sicherer im Schwarm, und je größer der Schwarm, desto besser für ihn. In Verhaltensexperimenten vor die Wahl gestellt, schließt sich ein Guppy vorzugsweise dem größeren Schwarm an. Er kann zwischen Quantitäten unterscheiden.
  • Honigbienen erkennen und finden ertragreiche Futterquellen leichter wieder, wenn sie Blütenblätter oder Landmarken zählen. Sie merken sich bis zu vier Landmarken, orientieren sich aber überwiegend an Distanzen. In Verhaltensexperimenten unterscheiden sie zwischen der Anzahl 3 und 4. Belohnte man sie in Wahlversuchen mit Zuckerwasser, sobald sie die niedrigere Anzahl („kleiner als“) anflogen, wählten sie bei der Alternative kein oder ein Punkt (0 oder 1) die Null. Sie haben also einen auf die Null erweiterten Zahlensinn.

Nicht immer müssen Tiere für solches Verhalten Objekte einzeln abzählen können, manchmal genügt auch die Wahrnehmung von Flächengrößen oder Helligkeitsunterschieden. Helen Ditz und Professor Andreas Nieder vom Institut für Neurobiologie der Universität Tübingen untersuchten die hirnphysiologische Grundlage des Zählvermögens. Um zu beweisen, dass Tiere wirklich zählen, variierten sie in Versuchen die Elemente auf Punktetafeln zufällig nach Größe und Verteilung. Außerdem gab es während des Experiments keinen direkten Kontakt zwischen Versuchsleiter und beobachtetem Tier. Dadurch wurde vermieden, dass eine (unbewusste) Erwartungshaltung und Körpersprache die Ergebnisse wie beim „Klugen Hans“ beeinflusst.

Neuronales Rechenzentrum

Schon neugeborene Menschen, junge Vögel oder Fische können Zahlenunterschiede feststellen. Dieser Zahlensinn ist also nicht an individuelle Erfahrungen gebunden, sondern angeboren und genetisch verankert. Anzahl, Entfernung oder Dauer erfassen und vergleichen zu können, hängt mit fundamentalen Hirnfunktionen zusammen. Bei Menschen und anderen Säugetieren sind dabei Nervenzellen im Stirn- undScheitellappen der Großhirnrinde aktiv, bei Vögeln ein weiter hinten gelegener Gehirnabschnitt. Das „Rechenzentrum“ bei
Säugetieren und Vögeln liegt aufgrund ihrer jeweiligen Gehirnorganisation zwar in unterschiedlichen Bereichen, in beiden Fällen sind aber einzelne „numerische“ Nervenzellen auf bestimmte Zahlen mehr oder minder spezialisiert. Wie die Insekten zeigen, braucht man zum Zählen kein Großhirn. Vermutlich lässt sich der einfache Zahlensinn auf physiologische Eigenarten von Sinnes- und Nervenzellen zurückführen. Ob er sich im Laufe der Evolution mehrmals unabhängig voneinander entwickelt hat, ist aber unklar. Menschen modifizieren und verfeinern ihre numerischen Fähigkeiten erst im Wechselspiel mit der Umwelt, durch kulturelle Errungenschaften wie Sprache und Schrift und letztlich durch den Mathematikunterricht an der Schule.

Dr. Inge Kronberg


Literaturtipps:

  • Hans Joachim Gross: Eine vergessene Revolution. Die Geschichte vom klugen Pferd Hans. In: Biologie in unserer Zeit, 2014,4: S. 268–272.
  • B. Butterworth, C. R. Gallistel, G. Vallortigara. (2017). Introduction: The origins of numerical abilities. Phil.Trans. R. Soc. B 373: 20160507. www.bit.ly/2JHjRTR
  • Giorgia Guglielmi: Honeybees can count to zero. Nature 7.6.2018 www.bit.ly/2JIDSd0
  • Andreas Nieder: Neurone mit Kalkül. Gehirn & Geist 2011, 4: S. 58–62.

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