Skip to content

Exoskelette als Forschungszwerkzeug für Industrie 4.0

Muskel-Skelett-Erkrankungen sind eine der Hauptursachen für Arbeitsunfähigkeit in Deutschland und anderen Industrieländern. Exoskelette, also am Körper getragene Stützstrukturen, können das Verletzungsrisiko minimieren. Für den breiten industriellen Einsatz sind die bisherigen passiven Lösungen allerdings zu unflexibel.

Erkrankungen am Muskel-­Skelett-­Sys­tem schaden den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und ihrer Firma. Derzeit heben und tragen rund 25 Prozent der Erwerbstätigen im Arbeitsalltag schwere Lasten. Muskel-­Skelett-­System-­Erkrankungen (MSE) sind mit einem Spitzenwert von etwa 24 Prozent eine der häufigsten Ursachen krankheitsbedingter Fehltage. Dominiert werden die MSE von Schäden an Lendenwirbelsäule, Schulter-­Arm-­Hand-­System, der Halswirbelsäule und den Kniegelenken. Besonders betroffen sind die Bereiche Montage und Logistik.

Muskel-Skelett-Erkrankungen vorbeugen

Eine zukünftige Möglichkeit, Arbeits­ausfäl­len vorzubeugen, können Exo­ske­let­te sein. Die am Körper getragenen Stützstrukturen sollen Arbeitende bei schwerer körperlicher Belastung mit zusätzlicher Kraft versorgen. Beispielsweise können Exoskelett-Hilfen genutzt werden, um stark belastende Tätigkeiten in Produktionsbetrieben zu erleichtern oder vor ergonomisch bedenklichen Bewegungsmustern zu bewahren. Manche Bewegungen, die Arbeitende über Jahre ausführen müssen, schädigen den Bewegungsapparat und führen zu Gelenkverschleiß. Zeitdruck und Akkordziele führen nicht selten dazu, dass bereits angeschaffte Handhabungshilfen wie Vakuumgreifer und leichte Lastkräne in der Praxis nicht angenommen werden. Spätfolgen aufgrund ungünstiger Bewegungsprofile sind nicht hinreichend im Bewusstsein verankert. Nicht immer ist es möglich, die Arbeitsabläufe so zu verändern, dass belastende Tätigkeiten signifikant reduziert oder automatisiert werden können. Technische Assistenzsysteme eröffnen die Perspektive, erfahrene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch mit 60 Jahren noch kräftig Hand anlegen lassen zu können. Die Vision des Fraunhofer IPA besteht in der Entwicklung aktiv angetriebener adaptiver Exoskelett­lösungen, die den Nutzer in Abhängigkeit der Aufgabe bedarfsgerecht und intuitiv unterstützen. Doch um ein „smartes“ aktiv angetriebenes Exo­skelett oder dessen Teilkomponenten zu realisieren, ist ein eingespieltes interdisziplinäres Team notwendig.

Bewegungsablauf des Menschen als Forschungsgrundlage

In Zusammenarbeit mit den Forschenden der angewandten Biomechanik können mit Hilfe zahlreicher Messsysteme individuelle Bewegungsanalysen erstellt und Schlussfolgerungen in Form ergonomischer und biomechanischer Anforderungen gezogen werden. Know-how im Bereich der Orthopädie stellt sicher, dass die Dynamik von Mobilitätshilfen und Exo­skelet­ten dem natürlichen Bewegungsablauf so nahe wie möglich kommt. Dies minimiert die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Haltungsschäden aufgrund von Fehlbelastungen, die vom Assistenzsystem beeinflusst werden können. Man muss die technischen Hilfen korrekt an das Individuum anpassen, damit der Tragekomfort gewährleistet ist. Welche Körperpartien dürfen belastet werden? Wo lassen sich die Kräfte, die so ein Apparat entwickelt, in den Körper des Patienten ableiten? Diese Fragen müssen Orthopäden, Ergonomieexperten, Physiotherapeuten, Sportwissenschaftler und Ingenieure gemeinsam beantworten.

Ergonomiewerkzeug mit Bewegungsfreiheit

Die IPA-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler haben ein Ober­körper­exo­ske­lett entwickelt, das den Träger unterstützt, dabei aber auch vergleichsweise schnelle und intuitive Bewegungen zulässt. An Ellenbogen und Schultern wurden Antriebsmodule integriert, die Bewegungen mit hohem Drehmoment unterstützen. An der Schulterpartie ist eine mehrachsige Gelenkkette angebracht, die der Schultergelenkgruppe folgt; so können selbst Überkopfmontagen bewältigt werden.

Vom Ergonomie- zum Forschungswerkzeug

Beim Stuttgart Exo-Jacket des Fraunhofer IPA handelt es sich einerseits um eine Entwicklungsplattform, die sich mit Hilfe von Aktorik, Sensorik, diversen Steuerungs- und Regelungsmodi sowie einer Funkschnittstelle zur Konfiguration und Kommunikation zunehmend zu einem Forschungswerkzeug für adaptive Assistenzsysteme entwickelt.
Denn wenn das System mittels Sensorik Gelenkwinkel und -momente sowie seine Orientierung im Raum und die Lage der Gliedmaßen erfasst, was hindert die Wissenschaft daran, diese Messdaten zur Beurteilung ergonomischer Gesichtspunkte heranzuziehen, möglicherweise unter Verwendung physiologischer Signale wie Herzratenvariabilität? Die wandelbare Fabrik mit bedarfsgerechtem Personaleinsatz durch Echtzeitbewertung der Ergonomie ist eine Vision, mit der sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Fraunhofer IPA identifizieren. Noch ist das Zukunftsmusik. Wie man jedoch spätestens seit Salim Ismails Werk „Exponential Organizations“ weiß, verlaufen technologische Entwicklungen im Zeitalter der Digitalisierung nicht inkrementell-linear, sondern exponentiell oder werden substituiert. Beim IPA bleibt der Mensch im Fokus. Er ist niemals obsolet.

Bisherige Exoskelett-Lösungen

Bisher kommen Exoskelette allerdings hauptsächlich in der Forschung zum Einsatz, in der Industrie ist die Akzeptanz noch verhalten, wenn auch zunehmend ein positiver Anfragetrend zu verzeichnen ist. Die aktuell am Markt verfügbaren Lösungen sind in der Regel passive Systeme mit rudimentärer (manueller) Anpassungsfähigkeit an die Arbeitssituation.
Die Zukunft von Assistenzsystemen wie Exoskeletten ist zweifelsfrei vernetzt und eng an Entwicklungen im Bereich Virtual Reality (AG)/Augmented Reality
(AG) gekoppelt. Aktuelle Trends aus der Automobil- und Unterhaltungsindustrie nehmen bereits heute und in Zukunft vermehrt Einfluss auf die Entwicklung insbesondere aktiver Exoskelette.

Marius Fabian

 

Marius Fabian arbeitet als Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA. Er leitet die Gruppe „Antriebssysteme und Exoskelette“ in der Abteilung „Biomechatronische Systeme“.

 


Weitere Informationen

Fraunhofer IPA: Antriebssysteme und Exoskelette

 

 

Beitrag teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Pinterest
XING
WhatsApp
Email

Ähnliche Beiträge

Version 1 (3)
11. April, 2024
Informatik ist überall, nur nicht im Unterricht – obwohl die Kultusministerkonferenz das Gegenteil empfiehlt. Immerhin surft jedes zweite Kind zwischen sechs und 13 Jahren allein im Netz. Wieso Lehrkräfte nicht auf die Politik warten müssen und schon heute tollen Informatikunterricht ohne Computer machen können, lesen Sie hier.
TED-Talk_Bildung_Header_1920x1080
28. Februar, 2024
Wenn wir uns für ein bestimmtes Thema interessieren und dazu unser Wissen erweitern möchten, ist unsere erste Anlaufstelle oft das Internet, gefolgt von Podcasts, Wissensvideos oder Sachbüchern. TED Talks haben in den vergangenen Jahren in Deutschland zwar sicherlich an Bekanntheit gewonnen, fristen jedoch verglichen mit ihrer Popularität in englischsprachigen Ländern wie den USA oder Großbritannien noch immer ein Schattendasein – das jedoch völlig zu Unrecht.
Header_MZ Blogbeitrag_04-2023 (4)
11. Januar, 2024
Es ist ein hübsches Spiel für geduldige Kinder: Auf einer Holzplatte ist ein Kreis aufgezeichnet, und auf dem Umfang dieses Kreises sind in gleichmäßigen Abständen p – 1 Nägel eingeschlagen, wobei p in der Größenordnung von einigen Hundert liegt und am besten eine Primzahl ist. Die Nägel n sind fortlaufend nummeriert. Die Aufgabe besteht darin, für alle n von 1 bis p – 1 einen Faden von Nagel n zu Nagel 2n zu ziehen.
Header_MZ Blogbeitrag_04-2023 (1)
20. Dezember, 2023
Jugend forscht, Jugend debattiert, Mathematik- Olympiade oder Jugend musiziert – Schülerwettbewerbe prägen bereits seit Jahrzehnten den Unterrichtsalltag vieler Schüler*innen. Dies gilt auch und in besonderem Maße für den Bereich der ökonomischen Bildung.
Header_MZ Blogbeitrag_04-2023
20. Dezember, 2023
Seit ein Artikel in der New York Times im Dezember 2017 über ein geheimes Programm zur Erforschung von unbekannten Luftphänomenen (UAP) im US-Verteidigungsministerium berichtete, häufen sich die Nachrichten zu UAP. Ein ehemaliger Geheimdienstoffizier sagte nun vor dem Kongress aus, dass die USA sogar im Besitz „intakter, nicht menschlicher Technologie“ seien. Sollte uns eine außerirdische Intelligenz besuchen, könnte diese Erkenntnis die Menschheit jedoch in eine kosmische Krise stürzen.
Header_Entdeckt_02-2023 (20)
5. Dezember, 2023
Albert Einsteins Relativitätstheorie dient heute als Werkzeug: Erstmals wurde die Masse eines Sterns anhand der Deformation seiner Raumzeit ringsum gemessen. Schon 1912 hatte Einstein entdeckt, wie ein Stern durch seine Schwerkraft die Lichtstrahlen eines anderen, viel weiter entfernten Sterns geringfügig verbiegt. Weil der Ablenkwinkel winzig ist, schrieb er 1936, nachdem er diesen Gravitationslinseneffekt erneut untersucht hatte: „Selbstverständlich besteht keine Hoffnung, das Phänomen zu beobachten.“
Header_Entdeckt_02-2023 (17)
21. November, 2023
„Wir suchen die Forscher von morgen!“ – Das Motto, unter dem die Zeitschrift stern 1965 zur ersten Runde von Jugend forscht aufrief, hat nichts von seiner Aktualität verloren. Der Bedarf an naturwissenschaftlich-technischen Spitzenkräften ist in Deutschland unvermindert hoch. Angesichts des zunehmenden globalen Wettbewerbs wird sich der hierzulande bereits bestehende Fachkräftemangel sogar noch verschärfen. Vor diesem Hintergrund leistet Jugend forscht einen wichtigen Beitrag, um die jungen Talente zu finden und zu fördern, die wir in Wirtschaft und Wissenschaft dringend benötigen.
Header_Entdeckt_02-2023 (14)
8. November, 2023
Mit Platz für sieben reguläre Besatzungsmitglieder und einer ununterbrochenen menschlichen Präsenz seit Oktober 2000 ist die Internationale Raumstation (ISS) die größte und erfolgreichste Raumstation aller Zeiten. Ihre Zukunft jedoch wird immer ungewisser.
Header_Entdeckt_02-2023 (4)
10. Oktober, 2023
Je größer die Frequenz einer schwingenden Klaviersaite, umso höher ist der Ton, den der Mensch hört. Allerdings steigt die Tonhöhe nicht gleichmäßig mit der Frequenz an, sondern wird vom Gehör logarithmisch abgeflacht.
Header_Entdeckt_02-2023 (3)
27. September, 2023
Der Tag hat noch gar nicht richtig angefangen, da haben wir schon tausend Dinge im Kopf: schnell anziehen, frühstücken, zur Arbeit hetzen … Kaum dort angekommen, füllt sich der Schreibtisch schneller als ein Fußballstadion beim Finale der Weltmeisterschaft. Der Kopierer streikt, das Meeting wurde vorverlegt und der Kaffee ist alle. Nach nur zwei Stunden Arbeit ist man direkt wieder reif für das Bett, weil man letzte Nacht schon wieder kaum geschlafen hat.
MZ-2023_Beitragsbild (1)
15. September, 2023
Digital First, Textverstehen zweitrangig? Der Eindruck könnte entstehen, wenn man das Leseverhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit den Ergebnissen der empirischen Leseforschung kontrastiert. Denn die Leseforschung sagt, dass wir anspruchsvolle Sachtexte weniger gut verstehen, wenn wir sie digital lesen. Befragt nach ihren Lesegewohnheiten berichten aber Studierende, dass sie mehr als 80  Prozent ihrer Lesezeiten vor dem Bildschirm verbringen. Belletristik wird hingegen lieber auf Papier gelesen als auf dem E-Reader. Dabei gibt die Leseforschung mit Blick auf die narrativen Texte Entwarnung: Ein Nachteil ist mit der digitalen Lektüre nicht verbunden.
MZ-01-23_Beitragsbild BecksEcke
27. Juni, 2023
Ein raffiniertes Konzept könnte die elementarsten Arbeitsschritte eines Rechners auf eine völlig neue Grundlage stellen – aber das wird voraussichtlich nicht passieren.