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Umfassend oder überfrachtet? Warum das Integrationsfach WAT/AWT an seine Grenzen gerät

In der Theorie klingt es erst mal pädagogisch und didaktisch verlockend: Umfassend ausgebildete Lehrkräfte verharren nicht stur in ihren fachlichen Grenzen, sondern unterrichten Phänomene in ihren mannigfaltigen Zusammenhängen. So erwerben Schüler*innen die Möglichkeit, Sachverhalte umfassend aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten und ihnen kompetent zu begegnen. Im Hinblick auf eine vollgestopfte Stundentafel scheint dies auch zeitlich effizient: Warum verschiedene Fächer aufwenden, wenn man drei oder vier Bildungsanliegen in einem zweistündigen Fach unterbringen kann?

Ein Beitrag von Prof. Dr. Vera Kirchner

Selbstverständlich kommen noch verschiedenste überfachliche Bildungsanliegen hinzu, etwa die Sprach- oder Medienbildung oder auch die Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Wirft man einen Blick auf die deutsche Schullandschaft und versucht trotz der regionalen Unübersichtlichkeit einen Überblick zu gewinnen, fällt auf, dass Integrationsfächer in der Grundschule, vor allem aber in der Sekundarstufe I und in den mittleren Schulformen auftauchen. An Gymnasien werden sie interessanterweise weniger häufig bemüht – möglicherweise aus guten Gründen.

Fach WAT/AWT enthält wichtige Lernfelder

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Schulfach mit den Inhalten Wirtschaft, Arbeit, Technik, abgekürzt WAT oder AWT (u. a. in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen), in welchem die ökonomische und technische Bildung mit dem Bildungsanliegen der beruflichen Orientierung kombiniert werden. Dem Namen des Fachs nicht zu entnehmen ist, dass es zumeist mit der Ernährungs- und Verbraucherbildung noch ein viertes anspruchsvolles Lernfeld enthält. Hinzu kommen naturwissenschaftliche Grundlagen, die beispielsweise in der technischen Bildung, aber auch für die ernährungsphysiologischen Grundlagen der Ernährungsbildung wesentlich sind.

Mit der beruflichen Orientierung und der Verbraucherbildung werden bei der ökonomischen Bildung zwei Schwerpunkte gesetzt, die im Hinblick auf die Zielgruppe (maßgeblich Sek. I) sinnvoll erscheinen, aber angesichts eines knappen Zeitbudgets zu einer Beschränkung anderer Zielperspektiven ökonomischer Bildung führen – auch mit einem mittleren Schulabschluss benötigt man u. a. wirtschaftsbürgerliche Kompetenzen. Raum im Rahmenlehrplan und Unterrichtszeit bleiben hierfür zumeist nicht – dies gilt jedoch genauso für die anderen Lernfelder, in denen Wesentliches außen vor bleiben muss. Einen umfassenden Allgemeinbildungsanspruch einzulösen, scheint so nahezu unmöglich.

Zweifelsohne ist der Gedanke an ein Integrationsfach theoretisch erst mal attraktiv: So sind die technische Entwicklung und ökonomische Bildung inhaltlich und in der Praxis eng verschränkt, Ernährungsbildung häufig mit Verbraucherbildung verbunden, und es lassen sich auch in einer Lehrküche oder einem technischen Fachraum treffliche Einblicke in praktisches Arbeiten gewinnen, die wiederum zur beruflichen Orientierung der Schüler*innen beitragen können, auf jeden Fall aber fachspezifisch eingebettet und reflektiert werden müssen, um ihr Bildungspotenzial zu entfalten.

Fachlehrkräfte selbst sind meist nicht hinreichend ausgebildet

Institutionelle Hürden bei Integrationsfächern

Wohl wissend um dieses theoretische und mit Blick auf einen umfassenden Kompetenzerwerb der Lernenden ausgerichtete Integrationspotenzial möchte ich im Folgenden zentrale Schwierigkeiten mit Blick auf die Schul- und Unterrichtspraxis aufzeigen, die eng mit Problemen in der Lehrkräfteaus- und -weiterbildung verbunden sind. Deutlich hervorheben möchte ich, dass ich alle Bildungsanliegen des Faches WAT/AWT mit Blick auf den Allgemeinbildungsanspruch Heranwachsender für bedeutsam halte. Diese Ausführungen sollen also nicht als Plädoyer für ein eigenständiges Fach zulasten der anderen Bildungsanliegen verstanden werden, sondern dazu dienen, systematische und institutionelle Schwierigkeiten aufzuzeigen, die vielfach auch dadurch begünstigt werden, dass die genannten Integrationsfächer zu oft als Wahlpflichtangebote mit einer sehr dezimierten Anzahl an Kontingentstunden daherkommen.

Hürde 1: Mangel an Unterrichtszeit und Fachräumen

Die bereits skizzierte Knappheit an tatsächlicher Unterrichtszeit für die verschiedenen, für spätere Lebenssituationen zentralen Bildungsanliegen führt u. a. dazu, dass ein umfassendes, mehrperspektivisches Verständnis ökonomischer und technischer Bildung in den Rahmenlehrplänen und im tatsächlichen Unterricht kaum einzulösen ist. Und es verbindet sich in der Praxis ungünstig damit, dass diese Fächer, wenn sie denn stattfinden, vielfach von Lehrpersonen unterrichtet werden, die fachfremd sind und sich im besten Fall für einige der Lernfelder aus verschiedenen Gründen berufen fühlen, hierfür aber oft nicht hinreichend ausgebildet sind.

Aus individueller Perspektive dieser zweifelsohne sehr häufig engagierten (und dringend benötigten) Lehrpersonen ist es nur verständlich, sich fachlichen Fluchttendenzen hinzugeben – für die Unterrichtung aller Lernfelder bleibt ohnehin meist nicht ausreichend Unterrichtszeit oder sind die entsprechenden benötigten Fachräume nicht vorhanden, unzureichend ausgestattet oder belegt. Häufig gelingt es an den Schulen auch nicht, gewohnte Pfade zugunsten eines modernen fachdidaktischen Verständnisses zu verlassen, beispielsweise in der technischen Bildung weg von materialbezogenen Fachräumen hin zu flexibleren Settings zu gehen. Unzureichend qualifizierten Lehrpersonen fehlt hierzu zumeist auch die fachdidaktische Argumentationsgrundlage. Insbesondere für die Arbeit mit Lernenden in Schulwerkstätten und Lehrküchen sind aus guten Gründen entsprechende Qualifikationen und Sicherheitsnachweise erforderlich. Diese sind außerhalb eines entsprechenden Fachstudiums vielfach schwierig zu erwerben; auch das macht es den dringend benötigten Quereinsteiger*innen nicht einfacher, entsprechende Kompetenzen zu erwerben.

Hürde 2: Theoretische Breite des Faches überfordert

Die theoretische Breite des Faches ist nicht nur für die Lehrpersonen, sondern auch für die Schüler*innen oft überfordernd, zumal das Fach häufig auch von denjenigen gewählt wird, die froh sind, keine weitere Fremdsprache belegen zu müssen und endlich mal praktisch zu arbeiten – sofern ein Fachraum und eine qualifizierte Lehrperson hierfür zur Verfügung stehen. In der Praxis bleibt den Schulen vor dem Hintergrund dieser Gemengelage vielfach nur die Flucht nach vorne: In schulinternen Curricula werden zwangsläufig je nach Lage vor Ort fachliche Schwerpunkte gelegt und Lernfelder ausgeklammert, die nicht geleistet werden können – das ist rational und verständlich, aber im Hinblick auf die Zukunft der Schüler*innen höchst problematisch.

In der Lehrkräfteausbildung für das Fach WAT/AWT bleibt im Rahmen eines Lehramtsstudiums, welches aus zwei Fächern und einem bildungswissenschaftlichen Begleitstudium besteht, wenig Raum für die fachwissenschaftliche Grundlage und die fachdidaktische Auseinandersetzung in den einzelnen Lernfeldern. Mit Glück haben die zukünftigen WAT/AWT-Lehrkräfte in jedem Lernfeld einzelne Lehrveranstaltungen belegt, wobei erschwerend dazukommt, dass sich die fachwissenschaftliche Basis etwa bei der technischen Bildung ja nicht auf eine fachliche Disziplin beschränkt oder auch die Ökonomie einen mehrperspektivischen Zugriff erfordert, wenn sie sich nicht den Vorwurf gefallen lassen will, einseitig zu sein.

Hürde 3: Unzureichende Ausbildung in den einzelnen Bereichen

In der Fachdidaktik bleibt dann die Herausforderung, alle Lernfelder gemeinsam zu bespielen. Dies ist für die Universität, wo das Fach häufig auch ohne eine fachdidaktische Professur auskommen muss, genauso unrealistisch wie für die Schule. Auch hier werden notgedrungen fachliche Schwerpunkte gesetzt und natürlicherweise andere dafür vernachlässigt. Unterm Strich bleibt zukünftigen Fachlehrkräften für WAT/AWT zu wenig Zeit für eine fundierte fachliche, fachdidaktische und praktische Ausbildung in den verschiedenen Bereichen.

Der Fachkräftemangel gilt für die Universität gleichermaßen wie für die Schule. Zu häufig kommt es vor, dass die wenigen ausgeschriebenen entsprechenden Professuren nicht qualifiziert besetzt werden können. Auch Mitarbeiterstellen an der Universität sind unter den gegenwärtigen Bedingungen am Arbeitsmarkt insbesondere für qualifizierte Lehrpersonen kaum attraktiv oder sie werden hierfür aufgrund des Lehrkräftemangels verständlicherweise gar nicht abgeordnet. Dies erschwert die fachdidaktische Professionalisierung, die dringend benötigt wird, um Beiträge zur Qualifizierung von Quereinsteiger*innen, zur Lehrkräfteweiterbildung oder der Entwicklung von innovativen Unterrichtsmaterialien zu leisten. Die verschiedenen fachdidaktischen Communitys sind klein und regional zersplittert. Deutlich wird dies in der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung, die ebenso leidet wie der fachdidaktische Forschungsoutput, den es dringend bräuchte, um fachdidaktische Konzepte vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse zu aktualisieren.

Fach WAT/AWT enthält wichtige Lernfelder

Fazit

Alle Lernfelder des Faches WAT/AWT sind mit Blick auf die Zukunft von Kindern und Jugendlichen höchst relevant: eine umfassende ökonomische Bildung (inklusive der beruflichen Orientierung und der Verbraucherbildung) und eine mehrperspektivische technische Bildung ebenso wie Fragen einer gesundheitsförderlichen und nachhaltigen Ernährungsbildung. Es ist Zeit, darüber nachzudenken, wie Raum und Ressourcen in Schule und Universität geschaffen werden können, damit das gelingen kann und (wenn gewollt) eine wirkliche Integration stattfindet und nicht im schlimmsten Fall eine Vernachlässigung einzelner wichtiger Bildungsanliegen und in zu vielen Fällen ein schlichtes Nebeneinander von Lernfeldern in einem überfrachteten Fach mit einer angesichts der anstehenden Herausforderung schwachen Professionalisierung.

Prof. Dr. Vera Kirchner

Professorin für ökonomisch-technische Bildung und ihre Didaktik an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Fachdidaktik der ökonomischen Bildung.

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