Viele schrecken vor Spinnen zurück, der 32-jährige Dr. Tim Lüddecke nicht. Im Gegenteil: Er hat seine Doktorarbeit über Spinnengifte geschrieben. Am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME in Gießen erforscht er, was man aus Tiergift alles machen kann: Medizin zum Beispiel. Oder Insektizide. Alles total umweltfreundlich.
Ein Beitrag von Monika Goetsch
Viele Tiere haben die Fähigkeit, Gift abzusondern. „Gift ist ein sehr eleganter Weg, sich im Kampf mit einem anderen Tier einen Vorteil zu verschaffen“, erklärt Tim Lüddecke. Kommt es in der Wildnis zu einem Kampf, riskieren Tiere schwere Verletzungen. Anders, wenn sie die Fähigkeit besitzen, Gift zu verspritzen. Dann genügt ein kurzer Kontaktmoment, und der Gegner ist schachmatt gesetzt. Darum hat nahezu jeder Tierstamm auch ein paar giftige Vertreter. Faulaffen etwa verfügen über Giftdrüsen, mehrere mausartige Tiere produzieren Gift, ebenso Vampirfledermäuse und Vögel – und natürlich Salamander, Schlangen und Frösche.
Über einheimische Gifttiere weiß man wenig
Die Forschung hat sich lange vor allem auf die Tierarten konzentriert, deren Gift Menschen besonders gefährlich werden kann. Darum weiß man eine ganze Menge über die Gifte von Schlangen, Skorpionen und tropischen Spinnen. In Europa dagegen sind Gifttiere in der Regel weniger gefährlich. Bisse von Kreuzotter und Aspisviper können zwar sehr schmerzhaft sein, sind aber in der Regel nicht lebensbedrohlich. Dasselbe gilt für Feuerquallen und die barschartigen Petermännchen, auf die man manchmal im Meer tritt. Viel weiß man über das Gift einheimischer Tiere allerdings bisher nicht. Und das ist, was Tim Lüddecke interessiert: Er möchte herausfinden, wie die Gifte, die diese Tiere absondern, auf Molekülebene aufgebaut sind und wie diese Naturstoffe den Menschen nützen können. Genau das ist der Fokus des Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie in Gießen, an dem Tim Lüddecke die Arbeitsgruppe „Tiergifte“ leitet.
Traumberuf Gifttierforscher*in?
Wer eine ähnliche Karriere anstrebt wie Tim Lüddecke, sollte ein grundlegendes Verständnis von Biochemie haben. Es schadet nicht, selbst Tiere zu halten. Man kann sich auch an eine der Fachgesellschaften wenden und dort zum Beispiel lernen, wie man sicher mit Giftschlangen umgeht. Und noch etwas ist in diesem Job gefragt: eine gewisse Zähigkeit, was die Laborarbeit angeht.
Im Labor kann Tim Lüddecke untersuchen, wie das Tiergift genutzt werden kann
Auch seine Kolleg*innen isolieren aus Organismen wie Insekten, Bakterien und Pilzen Naturstoffe und prüfen anschließend, ob und wie diese in Medizin, Pflanzenschutz oder industrieller Biotechnologie genutzt werden können. Manche der von den Forscher*innen identifizierten Moleküle können als Antibiotika zum Einsatz kommen, andere in der Lebensmittelindustrie. Klar ist: Die Moleküle von Spinnengiften haben das Potenzial, in Bioinsektiziden wirksam zu werden. Das macht sie zu einer umweltschonenden Alternative zu herkömmlichen, chemischen Pestiziden. „Tiergifte sind unglaublich effiziente Biomoleküle“, sagt Tim Lüddecke.
Die umweltschonende Alternative
Seine Arbeit besteht unter anderem darin, Tieren in zoologischen Gärten oder in der freien Wildbahn ihr Gift abzuluchsen. Auf seinen wissenschaftlichen Ausflügen in die Natur hat er darum stets Kühlboxen bei sich, um das Gift der Tiere, auf die er zu treffen hofft, bei konstant niedriger Temperatur transportieren zu können. Bei Amphibien sitzt das Gift meistens in den Ohrdrüsen. Es kann aber auch vom Hinterkopf aus auf sein Opfer spritzen. Die Entnahme ist eindeutig was für Profis, sie unterscheidet sich sehr nach Tiergattung: Schlangen werden am Kopf fixiert und dazu gebracht, eine Membran durchzubeißen, dabei spritzen sie ihr Gift in einen Becher. Echsen lässt Tim Lüddecke auf ein kleines Stück Holz beißen und entnimmt den giftigen Speichel mit der Pipette. Manche Arten, die Krustenechsen etwa, sabbern so stark, dass der Speichel direkt eingesammelt werden kann. Für die Tiere sind all diese Manöver völlig unproblematisch. Schon nach wenigen Tagen hat sich das Gift erneut gebildet. Tim Lüddecke dagegen trägt das Gift ins Labor und verwahrt es so lange im Kühlschrank, bis daran geforscht wird.
Mit einer Pipette entnimmt Tim Lüddecke das Gift
Gastgeber von 42 Vogelspinnen
Erste Erfahrungen mit giftigen Tieren machte Tim Lüddecke schon als kleiner Junge. Während andere Kinder Fußball spielten, trieb er sich auf den Wiesen und an den Tümpeln seiner niedersächsischen Heimatstadt Salzgitter herum, auf der Suche nach Spinnen und Fröschen. Ihn faszinierte besonders, dass diese kleinen, so wehrlos scheinenden Tiere sich dank ihres Gifts gegen größere und stärkere Konkurrenten durchsetzen konnten. Ein Fazit: „Natur ist ein Kampf ums Überleben. Aber es gewinnt nicht unbedingt der Stärkere, sondern der, der die bessere Technik hat und den besseren Fahrplan.“ Nie empfand er Ekel, auch keine Angst. Eher schon „eine gehörige Portion Respekt“. Als er älter wurde, begann er, sich Vogelspinnen und Skorpione, Hundertund Tausendfüßer als Haustiere zu halten. Zurzeit lebt er mit 42 Vogelspinnen und drei Blutegeln zusammen, die Wohnzimmerwand ist ein einziges Terrarium. Die meiste Zeit verbringen Vogelspinnen allerdings in ihrer Höhle. Zur Enttäuschung mancher Terrariumbesitzer*innen sind viele Gifttiere selten aktiv. Aber wenn sie sich bewegen, kann man staunen über die kontrollierte Eleganz, mit der etwa eine Spinne alle Gliedmaßen gleichzeitig bewegt oder eine Schlange blitzschnell durch den Sand gleitet. Das mag bedrohlich wirken. „Aber die Tiere wollen niemandem etwas Böses. Sie möchten in Ruhe gelassen werden.“ Von allein greifen Gifttiere Menschen nicht an, „außer vielleicht Bienen oder Wespen, die ihr Nest verteidigen, oder ein harmloser Skorpion, der sich gestört fühlt, weil man den Stein umdreht, unter dem er sich versteckt hält.“