Das Stottern von Kindern und Jugendlichen wird in der Schule noch immer zu wenig beachtet und unterschätzt – was mitunter zu Benachteiligungen und Fehleinschätzungen führt, die sich auf die gesamte schulische Entwicklung der Kinder auswirken können. Dem kann entgegengewirkt werden, indem alle Beteiligten offen aufeinander zugehen und Stottern nicht zum Tabu gemacht wird.
Ein Prozent aller Menschen stottern, im Kindesalter sind es sogar bis zu fünf Prozent. Statistisch gesehen gibt es somit in jeder Klasse ein bis zwei stotternde Schüler*innen. Dies mag überraschen, berichten doch viele Lehrkräfte, noch nie einem Stotternden im Unterricht begegnet zu sein. Das liegt daran, dass diese Kinder ihr Stottern oftmals verstecken und dadurch unentdeckt bleiben. Übrigens: Stottern ist nicht gleich stottern. Die Redeflussstörung äußert sich bei jedem Betroffenen anders und kann je nach Situation unterschiedlich stark auftreten. Offensichtliche Wort- und Lautwiederholungen zählen ebenso zur primären Symptomatik wie Dehnungen oder Blockaden. Nicht selten umgehen Betroffene diese Stottersymptome, indem sie Worte austauschen oder einer Situation ganz ausweichen. Dies zählt zu den Begleiterscheinungen, auch als sekundäre Symptome bezeichnet.
Stottern in der Schule ist belastend
„Meine Schulzeit war geprägt von Vermeidung und Angst. Keiner durfte merken, dass ich stottere. Ich saß oft schweißgebadet in der Bank und habe mitgezählt, wie lange es noch dauert, bis ich beim Vorlesen drankomme“, beschreibt eine heute 55-jährige Betroffene ihre Schulzeit. So wie ihr ergeht es vielen stotternden Kindern und Jugendlichen auch heute noch. Die Schulzeit ist für viele belastend,z. B. weil sie sich für ihr Stottern schämen oder Angst haben, vor der Klasse nicht flüssig zu sprechen. Andere sind frustriert, weil sie nicht das zeigen, was sie eigentlich können (z. B. sich nicht melden, obwohl sie die Antwort wissen). All diese Emotionen bleiben für die Lehrkraft häufig unbemerkt. Stottern wird in diesem Zusammenhang gerne mit einem Eisberg verglichen: Ein großer Teil, der die Sprechbehinderung ausmacht, ist unterhalb der Wasseroberfläche verborgen.
Ein großer Teil, der die Sprechbehinderung ausmacht, ist nicht direkt ersichtlich.
Literatur-Tipp
Thum, G. (2011). Stottern in der Schule: Ein Ratgeber für Lehrerinnen und Lehrer.
Köln: Demosthenes-Verlag. Das Buch ist kostenlos erhältlich als Teil des Informationssets der BVSS.
Tipp 1: Stottern erkennen und ansprechen
Nicht immer ist Stottern leicht zu erkennen, vor allem dann, wenn die primären Symptome nicht stark oder die Vermeidestrategien ausgeprägt sind. Durch aufmerksames Beobachten kann es Ihnen als Lehrkraft gelingen, ein stotterndes Kind im Unterricht zu identifizieren, z. B. wenn Kinder immer wieder der mündlichen Beteiligung ausweichen. Auch eine ungewöhnliche (z. B. flüsternde) Sprechweise oder häufige Satzabbrüche können Indizien sein. Da auch hinter einem auffälligen Schüler ein stotterndes Kind stecken könnte, bleibt das Erkennen für die Lehrkraft eine Herausforderung. Suchen Sie im Zweifelsfall das vertrauliche Gespräch mit den Eltern bzw. dem betroffenen Kind und sprechen Sie Ihre Vermutung behutsam an, wenn die Initiative nicht vom Kind bzw. dessen Eltern ausgeht. Ein offenes Aufeinanderzugehen ist letztlich die Grundlage, damit gute gemeinsame Lösungen für den Umgang mit stotternden Kindern im Unterricht gefunden werden.
Tipp 2: Vereinbarungen treffen bzw. Nachteilsausgleich beantragen
Fragen Sie im Gespräch mit dem betroffenen Kind nach, was ihm im Unterricht helfen könnte, und halten Sie diese individuellen Vereinbarungen mit einem Eintrag in der Schüler*innenakte fest. Zu möglichen Absprachen für die mündliche Mitarbeit zählt, dass der Schüler oder die Schülerin nur nach Aufzeigen aufgerufen wird. Alternativen bei Referaten sind, dass sie nur vor der Lehrkraft vorgetragen werden oder das Referat per Video zu Hause aufgenommen wird. Diese Vereinbarungen können mitunter ohne einen offiziell gestellten Antrag auf Nachteilsausgleich umgesetzt werden.
Übrigens:
Stottern ist als Behinderung anerkannt und betroffenen Kindern steht daher ein Nachteilsausgleich zu. Spätestens für Abschlussprüfungen ist
i. d. R. ein Antrag erforderlich. Eine gängige Modifizierung bei mündlichen Prüfungen ist eine Zeitverlängerung, wobei dies nicht jedem Betroffenen gleichermaßen hilft. Finden Sie gemeinsam heraus, ob andere Anpassungen (z. B. nur ein Prüfer stellt Fragen, Einsatz technischer Hilfsmittel wie Laptop und Beamer) eine Möglichkeit sind. Nicht zu vergessen ist natürlich das Ersetzen von mündlichen durch eine schriftliche Leistung. Eine allgemeine Übersicht zum Nachteilsausgleich bei Stottern und zu den länderspezifischen Regelungen finden sich hier: www.stottern-und-schule.de/nachteilsausgleich
Informationen und Beratung
Die Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e. V. (BVSS) ist die Interessenvertretung stotternder Menschen in Deutschland und setzt sich seit über 40 Jahren für die Rechte stotternder Menschen ein. Seit vielen Jahren leistet die BVSS zum Thema „Stottern und Schule“ Beratungs- und Aufklärungsarbeit und unterstützt Lehrkräfte bei Fragen zum Umgang mit stotternden Schüler*innen. Grundlegende Informationen stellt der Verein auf seiner Website www.stottern-und-schule.de bereit. Dort besteht auch die Möglichkeit, ein kostenfreies Informationsset zum Thema „Stottern und Schule“ zu bestellen. Für alle offengebliebenen Fragen bietet die BVSS eine persönliche Beratung an: [email protected], 0221-1391106, www.bvss.de
Tipp 3: Im Austausch bleiben und Stottern zum Thema machen
Bleiben Sie mit dem stotternden Kind im Austausch und überprüfen Sie gemeinsam, ob die getroffenen Vereinbarungen weiterhin passen. Achten Sie darauf, dass alle Fachlehrkräfte über das Stottern und die Absprachen informiert sind. Es bietet sich zudem an, das Thema – sofern der Schüler bzw. die stotternde Schülerin damit einverstanden ist – mit der ganzen Klasse zu behandeln. Hierzu hat die BVSS Unterrichtsmaterial entwickelt, das für die Gestaltung einer Schulstunde eingesetzt werden kann und kostenlos zum Download zur Verfügung steht.
Und auch ohne stotterndes Kind in der Klasse eignet sich das Material gut für eine Unterrichtsstunde zum Thema Vielfalt oder Anderssein. Machen Sie mit und leisten auch Sie Ihren Beitrag, damit die Sprechbehinderung Stottern kein Tabuthema mehr ist.
Martina El Meskioui