Keine Frage, die Digitalisierung stellt neue Anforderungen an die ökonomische Bildung und an die Wirtschaftslehrerinnen und -lehrer. Wie kann sich der Wirtschaftsunterricht diesen aktuellen Herausforderungen stellen? Dazu haben wir Prof. Dr. Vera Kirchner von der Universität Potsdam befragt.
Wie beurteilen Sie die Situation der ökonomischen Bildung an Schulen?
Wenn man sich vor Augen führt, welche Chancen und Risiken ökonomische Lebenssituationen für Heranwachsende in ihrem zukünftigen Leben bereithalten, kann man für die meisten Bundesländer feststellen, dass ökonomische Bildung zu wenig Berücksichtigung in der allgemeinbildenden Schule erfährt. Mir ist aber auch klar, dass wir hier ein ökonomisches Knappheitsproblem haben: Wir haben viele wichtige Bildungsanliegen und eine begrenze Unterrichtszeit. Meines Erachtens gehört ökonomische Bildung heute aber zu einer zeitgemäßen Allgemeinbildung unbedingt dazu. Und ein wesentlicher Gelingensfaktor dafür sind fachlich ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer für Wirtschaft, die oft fehlen.
Wirtschaftliches Handeln und Prozesse verändern sich in Zeiten von Amazon, Google und Co. Welchen Herausforderungen muss sich die ökonomische Bildung stellen?
Die Digitalisierung hat natürlich den Gegenstand der ökonomischen Bildung verändert. Hinter dem Stichwort der
„Internet-Ökonomie“ verbergen sich beispielsweise digitale Güter und Dienstleistungen, elektronische Märkte, digitale Geschäftsmodelle und Finanzierungstrategien, die sich zum Teil erheblich zu dem unterscheiden, was wir als ökonomisches Wissen bisher vermitteln. Ein Beispiel: Wer mit Hilfe eines Wochenmarkts das Funktionieren des digitalen Finanzmarkts erklären will, vergleicht mehr als Äpfel und Birnen, denn die institutionellen Rahmenbedingungen für Anbieter und Nachfrager unterscheiden sich erheblich. Diesen Unterschieden müssen sich nicht zuletzt die Fachlehrerinnen und -lehrer bewusst sein. Es geht vor allem darum, keine Angst vor diesen neuen Inhalten zu haben und das ökonomische Wissen zu nutzen, um sich diese zu erschließen.
Der Wandel der Arbeitswelt ist ein Fakt. In der beruflichen Bildung wurden daher schon einige Ausbildungsordnungen teilnovelliert. Spiegeln sich diese Veränderungen auch im Wirtschaftsunterricht wider?
Selbstverständlich spielen diese Veränderungen auch im Wirtschaftsunterricht eine Rolle, beispielsweise im Anwendungsfeld der Berufs- und Studienorientierung. Die Arbeitswelt befindet sich in einem rasanten Wandel, bei dem auch nicht alle ohne Probleme mitkommen. Digitalisierung schafft zwar viele Erleichterungen, rationalisiert und automatisiert aber auch Aufgaben, die früher von Menschen ausgeführt wurden. Hier müssen wir beraten und begleiten sowie individuelle Reflexionsprozesse anstoßen: Wo sehen Schülerinnen und Schüler ihren Platz in der neuen Arbeitswelt und wie können und wollen sie ihre Zukunft unter den Vorzeichen der Digitalisierung gestalten?
Zeigt sich dies schon in einigen Lehrplänen der Bundesländer?
Lehrpläne sind leider keine besonders dynamischen Konstrukte und sie haben berechtigterweise auch den Anspruch einer gewissen Gültigkeit. Das bedeutet aber auch, dass inhaltliche, fachdidaktische und methodische Innovationen dort meist nicht enthalten sind bzw. es lange dauert, bis diese dort ankommen. Zudem haben wir das beschriebene Knappheitsproblem, das sich in den sogenannten Integrationsfächern verschärft. Lehrpläne sind aber auch nur ein Teil von Unterrichtsrealität. Im Rahmen ihrer pädagogischen und didaktischen Freiheit machen viele Lehrerinnen und Lehrer bereits heute innovativen Wirtschaftsunterricht zum Thema Digitalisierung bzw. nutzen digitale Tools im Fachunterricht.
Wo besteht nach Ihrer Auffassung inhaltlichder dringendste Bedarf?
Der dringendste Bedarf ist der nach fachlich gut ausgebildeten Wirtschaftslehrerinnen und -lehrern. Viel zu oft wird Wirtschaft, wenn es unterrichtet wird, fachfremd gelehrt und gelernt. Der aktuelle Lehrkräftemangel in vielen Regionen Deutschlands verschärft die Lage. Das schafft Probleme, was das Thema Digitalisierung angeht – und ebenso beim Einsatz digitalen Lehrens und Lernens. Neben einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der Digitalisierung wäre meines Erachtens ein Umdenken in Hinblick auf Arbeitsgeräte wie das Smartphone erforderlich. Viele Lehrerinnen und Lehrer sehen diese eher noch als Störquelle des Unterrichts an, anstatt das Potenzial zu nutzen, dass die Geräte in den Hosentaschen der meisten Schülerinnen und Schüler verfügbar sind. Zudem gibt es auch rechtliche Probleme in den Schulen, die beispielsweise die Nutzung des Internets betreffen. Das sind Rahmenbedingungen, die innovativen Unterricht erschweren.
Welche besonderen Chancen liegen in der Beschäftigung mit dem Thema? Welche Kompetenzen werden den Schülerinnen
und Schülern vermittelt?
Neben einem Beitrag zu einer allgemeinen Medienkompetenz kann das fachspezifische Ziel der ökonomischen Bildung in Hinblick auf die Digitalisierung darin liegen, Heranwachsenden ihre ökonomische Dimension offenzulegen und sie zu befähigen, diese erkennen und analysieren zu können, um in der digitalen Welt ebenso fähig zu ein, ökonomische Entscheidungen selbstbestimmt und verantwortungsvoll zu treffen wie in der analogen. Digitale Souveränität ist hier meines Erachtens ein wesentliches Bildungsziel. Als digital souverän können Schülerinnen und Schüler dann bezeichnet werden, wenn sie in der Lage sind, digitale Medien selbstbestimmt zu nutzen und sich in der zunehmend digitaler werdenden Gesellschaft für sich selbst und gegenüber anderen verantwortlich zu verhalten. Die ökonomische Dimension digitaler Souveränität bezieht sich ganz basal zunächst darauf, ökonomische Zusammenhänge im Kontext von Digitalisierung als solche zu erkennen und dies als Grundlage selbstbestimmter (ökonomischer) Entscheidungen zu sehen. Das bezieht sich u. a. auf die wirtschaftliche Nutzung und Verwendung von zum Teil sehr persönlichen Daten und die Erkenntnis, dass diese beim digitalen Bezahlprozess gesammelt, vielfach gegen geringe Beträge getauscht und zur Optimierung des Marketings genutzt werden.
Stellt das Thema die Lehrerinnen und Lehrer vor neue Herausforderungen?
Ob bei diesem Thema grundsätzlich andere Herausforderungen bestehen als bei anderen, bin ich mir gar nicht sicher. Ein Unterschied könnte sein, dass Schülerinnen und Schüler in der praktischen Anwendung digitaler Geräte teilweise einen Wissensvorsprung haben, den man aber konstruktiv nutzen kann. Für die ökonomische Analyse und die kritische Reflexion von Digitalisierung sind aber nach wie vor Lehrerinnen und Lehrer gefragt. Vielleicht braucht der Eine oder die Andere etwas mehr Mut für digitale Themen im Wirtschaftsunterricht. Es gibt hierzu aber auch schon viele innovative Unterrichtsideen, die man nutzen kann.
Die Fragen stellte Jörg Schmidt
Dr. Vera Kirchner ist Professorin für ökonomisch-technische Bildung und ihre Didaktik an der Universität Potsdam. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt in der Fachdidaktik der ökonomischen Bildung.