Der „Raum als dritter Pädagoge“ unterstützt im Idealfall pädagogische Prozesse, anstatt sie einzuschränken. Kinder erkennen das überraschenderweise auch.
Ein Beitrag von Dr. Dierk Suhr
Das Lehr-Lern-Konzept der herkömmlichen Flurschule mit Klassenräumen für 30 Schüler*innen war der „Nürnberger Trichter“ – Lernenden wurde (und wird manchmal heute noch) der Lernstoff „ein-getrichtert“, auf dass sie ihn hinterher beherrschen. Die Idee dahinter war, Kindern möglichst viele „wissenswerte“ Details für ihr weiteres Leben zu vermitteln.
Konstruktivismus statt „Nürnberger Trichter“
Heute, da die Halbwertszeit wissenschaftlicher Erkenntnisse immer kürzer wird und wir enzyklopädisches Wissen jederzeit und überall über das Internet abrufen können, ist nicht mehr Wissenserwerb in der Schule gefragt, sondern der Erwerb von Kompetenzen – Probleme lösen lernen statt Problemlösungen lernen, wie Dr. Otto Seydel vom Institut für Schulentwicklung es so schön formulierte.
Heutige Lehr-Lern-Theorien gehen dabei von einem konstruktivistischen Ansatz aus, das heißt, Lernende müssen ihr Wissen individuell und aktiv selbst konstruieren. Der Input der Lehrenden ist dabei nur mit vorhandenem Wissen, informell Gelerntem und individuellen Interessen vermengt. Die Methodik des Lernen ändert sich dabei handlungs- und schülerorientiert: selbst experimentieren, selbst herstellen, selbst machen – eben „hands on, minds on”.
Vom Klassenzimmer zur Lernlandschaft
Die homogene Lerngruppe, die der Frontalunterricht voraussetzt, gab es vermutlich nie – heute ist der „Mythos der Homogenität“ nicht mehr aufrechtzuerhalten. Die Heterogenität heutiger Klassenverbände verlangt nach Differenzierungen, die Lehrkräfte kaum vollumfänglich leisten können. Gefragt sind offene „Lernlandschaften“, die individualisiertes Lernen ermöglichen und fördern. Kinder lernen hier mit unterschiedlichen Methoden an unterschiedlichen Themen, mit einem eigenen Rhythmus in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und mit eigenen Pausen. Dazu brauchen Kinder Lernräume, in denen sie selbst etwas „machen“ können – Werkstätten, Schülerlabore, Makerspaces. Letztere sind vor Jahrzehnten zunächst aus der Do-it-yourself-Bewegung entstanden, werden aber – begleitet von entsprechenden pädagogischen Konzepten – zunehmend auch im Schulbau realisiert.
Workshop „Kinder bauen ihre Zukunft“
Unsere heutigen Entscheidungen zur Gestaltung von Schulen betreffen junge Menschen in hohem Maße – was liegt also näher, als diese Kinder stärker an der Gestaltung ihrer zukünftigen Lernumgebungen zu beteiligen? In einem gemeinsamen Workshop der Hohenloher Academy und der Initiative „Baut Eure Zukunft“ im Juli 2022 entwarfen Schüler*innen ihre Visionen: Wie soll die Schule der Zukunft aussehen – wie und wo möchten wir als junge Menschen gerne lernen?
Nach einem Impuls zu moderner Pädagogik und innovativen Lernräumen ging es mit viel Spaß zur Sache: Brainstorming, Ideen clustern, Expert*innen interviewen. Nach der Analyse- und der Ideenfindungsphase wurden am Ende des Tages beeindruckende Prototypen zum Thema Schule und Fachräume der Zukunft präsentiert.
Das überraschende Ergebnis: Die Visionen der Schüler*innen entsprachen Konzepten, die auch von Fachleuten für die pädagogische Architektur gefordert wurden. So entwickelte eine Gruppe einen Raum, in dem Projekte über einen längeren Zeitraum bearbeitet und auch tatsächlich an einer Werkbank realisiert werden können – das entspricht dem „Makerspace“- Konzept, welches tatsächlich bereits an Schulen eingeführt wird. Eine andere Gruppe wünschte sich eine variable, zentrale Fläche im Schulgebäude, die für alle Klassen und von allen Räumen aus erreichbar ist – dieses Modell ist als „Cluster“- oder „Marktplatz“-Konzept bereits in einigen Schulen umgesetzt und wird empirisch beforscht.
Natürlich bewegte auch das Thema Nachhaltigkeit die jungen Tüftler*innen: Ein drittes Team entwickelte ein Modell mit begrüntem Dach und vielen Pflanzen im Innenraum, die neben dem ökologischen Wert das Raumklima verbessern und für mehr Wohnlichkeit sorgen.
Makerspaces und Lernlandschaften mit Cluster- oder Marktplatzlösungen entsprechen also nicht nur den Vorstellungen innovativer Pädagog*innen, Bildungswissenschaftler*innen oder Architekt*innen, sondern auch den Wünschen junger Schüler*innen – noch ein wichtiger Grund, solche neuen Raumkonzepte bei der Planung von Umbauten im Bestand, bei Sanierung oder Neubau zu berücksichtigen: Wenn dann auch noch der „Raum als dritter Pädagoge“ für Motivation, Interesse und Begeisterung in der Schule sorgt, lässt es sich auf Dauer kaum verhindern, dass Schüler*innen gern in die Schule gehen und dort „wie von allein“ auch etwas lernen …
Dr. Dierk Suhr
Dr. Dierk Suhr ist Naturwissenschaftler und Technikdidaktiker und beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit Gelingensbedingungen naturwissenschaftlicher und technischer Bildung. Seit 2020 betrachtet er als Leiter Bildungskonzepte bei Hohenloher Lernräume und Labore aus der pädagogisch-didaktischen Perspektive.
Weiterführende Links
Dr. Otto Seydel, Institut für Schulentwicklung:
Initiative „Baut Eure Zukunft“:
Hohenloher Academy:
Raumkonzepte: