Mehr Durchblick – ein Plädoyer für das Mikroskopieren

Mikroskopieren ist eine bedeutende MINT-­Kompetenz, die man sukzessiv und zielgerichtet in einem modernen anspruchsvollen Biologieunterricht bei Schülerinnen und Schüler zur Entwicklung bringen sollte.

Bilder bereichern unser Leben, il­lus­trie­ren Sachinformationen und veranschaulichen Erklärungen. So ist es mehr als naheliegend, mikroskopische Aufnahmen direkt im Unterricht durch digitale Präsentation zu verwenden bzw. sie sogar als Ersatz für eigenes praktisches Tun zu nehmen. Aber: Fehlt dem neuronalen Lern­pro­zess in dieser bunten, schnell ein­ge­blen­de­ten Bil­der­welt nicht Zeit und Asso­zia­tions­gelegen­heit, die präsentierte mikroskopische Aufnahme sinnvoll im Wis­sens­ge­dächt­nis der Lernenden zu verankern?

In der neuronalen Verarbeitung müsste das Bild im Buch von Vorteil sein. Ein modernes Biologiebuch ist reich an Zeichnungen zur Erklärung biologischer Phänomene und deren komplexer Vorgänge. Ergänzt werden Zeichnungen durch eine Vielfalt an Fotos, darunter ein Mix an mikroskopischen Aufnahmen, die mit Hilfe eines Licht-, Fluoreszenz- oder Elektronenmikroskops erstellt worden sind. Aber: Bieten einzelne mikroskopische Bilder mit Kurzlegende im stets individuellen Lernprozess hinreichend Anschlussfähigkeit an den Wissensspeicher?

Von der Makro- in die Mikrosphäre

Der Übergang von der Makro- in die Mikrosphäre will didaktisch und methodisch gekonnt sein und stellt für jede Lehrkraft immer aufs Neue eine Herausforderung dar. Im Anfangsunterricht des Mikroskopierens geht es darum, den dreidimensionalen Raum der allgegenwärtigen Makrosphäre auch in der Mikrosphäre erleb- und verstehbar zu machen, denn das zweidimensionale Bild im Mikroskop ist zunächst eine Fläche. Erst der Einsatz des Feintriebs am Mikroskop erzeugt im dünnen Schnitt eines Präparats ein räumliches Bild in der Mikrosphäre (siehe Modellversuch „Feintrieb am Mikroskop“).

Den Lernendem kann so verdeutlicht werden, dass das Linsensystem des Mi­kro­skops, wie der Overheadprojektor, lediglich eine Ebene innerhalb des räumlichen Präparates scharf einstellen kann. Eine Zelle im echten Präparat kann man in ihrer Räumlichkeit durch kontinuierliches Drehen des Feintriebs sichtbar machen.

Zeichnung eines pflanzlichen Modellkörpers mit Hervorhebung von drei Betrachtungsebenen

Bei manchen großen Präparaten bietet sich ein schrittweises Vorgehen an, zunächst ein Betrachten mit einer guten Lupe oder Stereolupe. Dies gestattet Orientierung in einem vielfältig strukturierten, meist angefärbtem Gewebe. Dann erst sollte das Präparat mit dem Mikroskop betrachtet werden.

Frisch- und Dauerpräparate

Kleinstlebewesen im Wassertropfen oder selbst hergestellte pflanzliche Frischpräparate sind ein Muss im Anfangsunterricht des Mikroskopierens. Der didaktisch bedeutsame Übergang von der Makro- zur Mikrosphäre ergibt sich von selbst. Auch lernt der Anfänger am Mikroskop mit Hilfe eigener Präparate am besten, wie dünn ein Schnitt sein muss, um Licht hindurchzulassen oder auch einzelne Strukturen zu entdecken. Doch die Herstellung von Frischpräparaten macht das Mikroskopieren zum zeitaufwändigen Unterrichtsvorhaben. Im ein- oder zweistündigen Biologieunterricht sind die zeitlichen Grenzen dann bald erreicht und das Mikroskopieren wird zum seltenen Ereignis. Und warum diese Methode im Biologieunterricht zeitaufwändig einführen, wenn sie in der Folgezeit wenig oder über Jahre hinweg gar nicht mehr praktiziert wird?

Will man das Mikroskopieren als fachspezifische Arbeitsmethode im Biologie­unterricht verstanden wissen, ist das Verwenden von Dauerpräparaten eine Selbst­­ver­ständ­lich­keit. Modern hergestellte Dau­er­prä­pa­rate sind hauchdünn und gleichen einander hochgradig, wenn sie aus einer Serie bestehen. Letztgenannte Eigenschaft gereicht dem Fertigpräparat geradezu zum Vorteil, weil die Lehrkraft sich darauf verlassen kann, dass alle Lerngruppen gleiche Lernobjekte derselben Qualität vor Augen haben.

Das Fertigpräparat als spannender Forschungsraum

Professionell hergestellte Mikropräparate sind sehr exakte Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchungsmethode, nämlich eines Gewebeschnittes. Gibt man den Lernenden die Farbcodierung bekannt, können sie selbst die Unterschiedlichkeit der Zellstrukturen erkennen, interpretieren und einordnen. Die Lehrkraft kann Arbeitsaufträge gezielt erteilen, um das Mikropräparat von den Lernenden nach und nach erforschen zu lassen. Es erscheint paradox, aber das „tote“ Mikropräparat bringt die Lebendigkeit des Lerngegenstandes wieder zurück.

Ein Beispiel: Im Kontext Verdauung wird der Aufbau der Darmschleimhaut thematisiert. Der Sachgegenstand wird mithilfe von Text und Zeichnungen, vielleicht auch mit einer Filmsequenz erarbeitet. Für Schülerinnen und Schüler ist es dann sehr spannend, das erworbene Wissen nun im Präparat selbst entdecken zu können (siehe Arbeitsblatt Mikrofoto).

Modell und Realität

Die Vielzahl der Zeichnungen im Biolo­gie-­Lehrbuch erhöht das Risiko von Fehlvorstellungen bei den Lernenden. Gut gemachte, klare Zeichnungen könnten durch ihre Häufigkeit als „reale Darstellung“ wahrgenommen werden. In dieser Fehlvorstellung sind Organe und Gewebe zellenlos. Aber jede Zeichnung ist ein Strukturmodell. Dies sollte hin und wieder ins Bewusstsein der Lernenden gerückt werden. Wenn Schülerinnen und Schüler sicher mit Modellen und realen mikroskopischen Darstellungen umgehen können, verbessert sich ihr Verstehen und ihre Merkfähigkeit, da das Wissensgedächtnis, das Vertrautheitsgedächtnis und das episodische Gedächtnis (Gerhard Roth, 2017) so angesprochen wird. Und solche Lernende haben in Biologie einfach mehr Durchblick!

Mikroskopieren als MINT-Kompetenz

In der Geschichte der Naturwissenschaften sind im 17. Jahrhundert durch die Entwicklung des Mikroskops einerseits als auch das akribische Forschen mit dem Mikroskop durch Wissenschaftler wie Marcello Malpighi und Anton van Leeuwenhoek bedeutende biologische Erkenntnisse gewonnen worden, wie beispielsweise die Entdeckung von Kapillaren, Blutzellen und Spermien und die Bestätigung der Theorie vom Blutkreislauf von William Harvey.

Die Bedeutung des Mikroskopierens ist bis heute ungebrochen. So ist das Arbeiten am Mikroskop eine Routinemethode in der Medizin, z. B. bei Operationen und in der Diagnostik. Ärzte und medizinische Assistenten nutzen sie gleichermaßen. Darüber hinaus wird das Mikroskop vielfältig in der Industrie eingesetzt. Viele Materialprüfungen und Oberflächenentwicklungen basieren auf dem Einsatz von Mikroskopen als hochtechnologisches Arbeitsmittel.

Modernisierung von Fachräumen und Biosammlung

In vielen Schulen werden zurzeit neue Mikroskope angeschafft, weil diese den elektrischen Sicherheitsprüfungen nicht mehr standhalten bzw. technologisch veraltet sind. Sowohl der Zugang und als auch der Einsatz der Mikroskope muss schnell und mit geringen organisatorischen Hindernissen verbunden sein. Als Möglichkeiten bieten sich: Bio-Fachraum mit Schwerpunkt Mikroskopie, fahrbarer Schrank oder Tisch mit Mikroskopen, zentrales Lager mit Mikroskopen im Flur vor den Fachräumen etc. Einer Erneuerung sollte auch das in der Biosammlung vorhandene Material an Dauerpräparaten unterliegen. Es sollte kritisch überprüft werden, ob sich das Material curricular und qualitativ für einen modernen schulischen Mikroskopierunterricht eignet oder Neuanschaffungen anstehen.

Angelika Frank

Modellversuch „Feintrieb am Mikroskop“

  1. Basteln Sie aus einer durchsichtigen Pralinenbox, brauner und grüner Knete ein transparentes Modell einer grünen Pflanzenzelle mit Zellkern und einigen randständigen Chloroplasten (siehe Abb). Eine tierische Zelle lässt sich entsprechend aus einer durchsichtigen Frühstücks­tüte, Wasser und einem (Tee-)Ei nachstellen. Mit einem Gummiband fest verschließen.
  2. Das Zellmodell wird auf der Glasscheibe eines Overheadprojektors (OHP) platziert und im Klassenraum projiziert.
  3. Stellen Sie nun unterschiedliche Ebenen im Zellkörper scharf und lassen Sie die Schülerinnen und Schüler nennen, was diese gerade in der Scharfeinstellung erkennen.
  4. Stellen Sie eine nächste Ebene ein und wiederholen Sie das Vorgehen.
  5. Lassen Sie die Schülerinnen und Schüler eine Erklärung für das Auftauchen und Verschwinden der Strukturen selbst formulieren.

Weitere Informationen

Gerhard Roth, Was das Gehirn zum Lernen braucht. In: Biologie in unserer Zeit, Heft 5, 2017, S. 326–331
http://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/biuz.201710632/full

Lehr- und Lernmaterialien zum Mikroskopieren
www.facilius.de