„Der Rest ist Hausaufgabe.“ Nicht originell, dieser Spruch, aber zehn Minuten vor Stundenende wirksam. Zumindest, wenn man als Lehrkraft seine Ruhe haben möchte. Aber hilft eine solche Hausaufgabe den Schüler:innen auch, den Inhalt des Unterrichts wirklich zu verstehen?
Ein Beitrag von Martina Hagemann
Zu einer gelungenen Stunde gehören ein guter Einstieg und am Ende eine passende Hausaufgabe. So hatte ich es im Referendariat gelernt und jahrelang nicht hinterfragt. Bis in meinem Bundesland G8 eingeführt wurde und Kinder sowie Eltern berechtigterweise forderten, den Nachmittag aufgrund des volleren Stundenplans zu entlasten. Etwa zur gleichen Zeit erlebte ich, wie sich meine Neffen mit ihren Hausaufgaben mühten. Noch mehr mühte sich ihre Mutter, indem sie entweder Tränen trocknete oder die Hausaufgaben zur Frustminimierung selbst übernahm. Als ich zusah, wie sie fein säuberlich die Mathelösungen im Heft ihres Sohnes notierte, wurde mir klar: Das klassische Hausaufgabenkonzept ist für mich nicht mehr passend.
Mathehausaufgabe zu morgen: keine
Der Sinn von Mathehausaufgaben besteht vor allem darin, neu eingeführte Rechenverfahren oder Lösungsstrategien anzuwenden und zu festigen. Doch wenn die Hausaufgaben ohnehin von den Eltern, Sitznachbar:innen im Bus oder mittlerweile der KI übernommen werden, ist auch der Übungseffekt dahin. Also schuf ich vor 15 Jahren Hausaufgaben, die über das Lernen neuer Regeln hinausgehen, komplett ab. Damit nahm ich den Eltern die Sorge, wann die Hausaufgaben im Alltag, wenn sie denn wirklich eigenständig erledigt wurden, untergebracht werden können. Gleichzeitig entstand aber die Frage, wie und wo die Schüler:innen stattdessen genug Rechenroutine entwickeln und ausreichend üben können.
Die Antwort war so einfach wie paradox: im Unterricht. Fehlende Hausaufgaben verschaffen nämlich Zeit. Die ersten fünf Minuten meines Unterrichts bestanden früher darin, zu prüfen, wer die Hausaufgaben bearbeitet hat. 29 Mini-Jurist:innen im Raum sorgten hin und wieder dafür, dass es locker auch mal zehn Minuten wurden: „Ich habe die Hausaufgaben gemacht, die liegen nur zu Hause. Warum bekomme ich jetzt einen Strich?“ Und etliche Diskussionen drehten sich um das Thema, ob halb erledigte Hausaufgaben einen halben Strich ergeben oder gar keinen, weil man den Rest zwar versucht, aber leider nicht verstanden habe. Weitere fünf Minuten brauchte ich für die Kontrolle nachgereichter Hausaufgaben. Nach zehn Minuten hatten wir oft nicht eine einzige Aufgabe verglichen. Diese Zeit nutze ich seitdem konsequent zum gemeinsamen Üben.
Linktipp
Studienergebnisse zur Sinnhaftigkeit von Hausaufgaben gibt es beim Deutschen Schulportal der Robert Bosch Stiftung:
Effektiver lernen im Unterricht
Wer Mathe versteht, dem ist es egal, ob neue Aufgabentypen zu Hause oder in der Schule geübt werden. Genau genommen muss diese Person (fast) gar nicht üben. Wie ist es aber mit den Kindern, denen in Mathe nicht alles so zufliegt? Sie sitzen bei Hausaufgaben allein mit ihren mathematischen Problemen am Schreibtisch oder mit den Hilfslehrkräften namens Eltern am Esstisch, während ausgebildete Lehrprofis die Unterrichtszeit mit dem Bearbeiten von Strichlisten füllen. Warum sollten Eltern sich den Kathetensatz mühselig mit Lernvideos beibringen, um das Wissen anschließend den Kindern zu vermitteln? Das ist nicht ihr Job, sondern der von uns Lehrkräften.
Das Verlagern des Übens in den Unterricht gibt mir die Gelegenheit, Schüler:innen zu helfen, wenn sie nicht weiterkommen. Zudem kann ich mich individuell um die Kinder kümmern, die noch größere Schwierigkeiten haben. Aber das Beste ist: Ich sehe, wo die Probleme auftreten. Bei abgeschriebenen oder von KI erstellten Hausaufgaben bleibt mir das in der Regel verborgen. Wer nicht weiterweiß, kann mich oder Sitznachbar:innen fragen statt ChatGPT oder andere Quellen, die zwar eine Aufgabe lösen, aber selten den Denkfehler erkennen können. Ein weiterer positiver Nebeneffekt: Wer das Schuljahr mit der Ankündigung beginnt, weitestgehend auf Hausaufgaben zu verzichten, hat gleich zu Beginn einen Pluspunkt bei der Klasse.
Individualisierte freiwillige Hausaufgaben
Doch Hausaufgaben haben, das erkannte ich einige Zeit später, auch ihr Gutes. Schwache Schüler:innen müssen einfach mehr üben, um in Mathe nicht den Anschluss zu verlieren. Die durch den Wegfall der „Hausaufgabenbuchführung“ gewonnene Zeit reicht zwar für die meisten, aber eben nicht für alle Kinder. Und zurückhaltende Kinder brauchen die Sicherheit, dass sie etwas in Ruhe gemacht haben, damit sie sich im Unterricht trauen, ihr Ergebnis vorzutragen. Solche Gelegenheiten entfallen beim Verzicht auf Hausaufgaben. Diese Überlegung führte dazu, dass ich mittlerweile ein flexibles Hausaufgabenmodell eingeführt habe, bei dem die Schüler:innen entsprechend ihrer Stärken und Schwächen wählen können, ob und welche Aufgaben sie zu Hause bearbeiten möchten.
Jede Woche lade ich auf der schulinternen Plattform eine Zusatzaufgabe passend zum Unterrichtsinhalt hoch. Weil die meisten Lehrbücher „Teste dein Wissen“-Seiten mit Lösungen anbieten, ist der Aufwand dabei sehr gering. Die Schüler:innen erhalten so unkompliziert Übungsaufgaben. Und falls etwas nicht verstanden wurde, können sie mich im Unterricht um Hilfe bitten. Diese Aufgaben sind ein Lernangebot. Merke ich jedoch, dass ein Kind Förderung benötigt, verpflichte ich es in Absprache mit den Eltern dazu. Diese sind oft erleichtert, weil ein heimisches „Üb doch mal Mathe!“ eher überhört wird als ein „Das ist Pflicht!“ aus dem Mund der Lehrkraft.
Download
Beispiele zu einer freiwilligen Monatsaufgabe und einer Knobelaufgabe für die Klassenstufe 5 stehen Ihnen hier zum Download zur Verfügung:
Das monatliche Extra
Ebenfalls hochgeladen auf der Schulplattform gibt es einmal im Monat ein Arbeitsblatt, das in Art und Umfang einer Klassenarbeit entspricht und dessen Abgabe freiwillig ist. Ich benote die Aufgaben und die Rückmeldung geht in die mündliche Mitarbeit ein – allerdings nur für den Fall, dass es eine Verbesserung darstellt. So haben zurückhaltende Kinder die Chance, mir zu zeigen, was sie können. Und eine individuelle Fehlerkorrektur mit passenden Anmerkungen gibt es auf jeden Fall. Etwas, das ich im Unterricht mit 29 Schützlingen nicht leisten kann. Meistens nutzt ein Drittel der Klasse dieses Angebot. Selten erlebe ich dabei, dass abgeschriebene Lösungen eingereicht werden, um eine gute Note zu bekommen. Für diejenigen, die nichts machen möchten, ist der Aufwand, eine freiwillige Aufgabe abzuschreiben, in der Regel zu hoch. Hin und wieder werden Partnerarbeiten abgegeben. Na und? Im Unterricht benote ich auch Gruppenarbeiten. Hauptsache, meine Schüler:innen lernen etwas dabei.
In fast jeder Klasse sitzen Kinder, die sich zwar bei „Aufgabe 6 m) bis z)“ langweilen, aber Freude am Tüfteln haben. Dafür gibt es bei mir jeden Monat eine Knobelaufgabe. Diese orientiert sich an den Aufgaben bekannter Mathewettbewerbe und ist damit eine gute Vorbereitung auf „Känguru“ und Co. Alte Aufgaben aus den Vorjahren gibt es genug, sodass auch hier kein großer Aufwand beim Erstellen anfällt. Knobelaufgaben bearbeiten bei mir vor allem die Schüler:innen, die in Mathe eine gute oder sehr gute Note erreichen möchten, wissen sie doch, dass man durch viele richtige Lösungen der Wunschnote ein Stück näher kommt.
Fazit
(Fast) keine Hausaufgaben hat für mich und meine Schüler:innen vor allem eins bewirkt: Entspannung. Zu Hause, weil es keinen Kampf mehr gibt um die zu erledigenden Aufgaben, und in der Schule, weil ich zu Stundenbeginn nicht mehr genervt bin von fehlenden Lösungen und unnötigen Diskussionen. Und wenn eins beim Lernen hilft, dann doch eine entspannte Arbeitsatmosphäre!
Martina Hagemann
ist Lehrerin für Mathematik und Biologie an einem Lübecker Gymnasium. Nebenberuflich arbeitet sie seit zehn Jahren als freie Autorin für verschiedene Verlage und Zeitschriften und bietet auch Fortbildungen an. Am liebsten erfindet sie Escape-Rooms – wenn sie nicht gerade selbst in einem eingesperrt ist oder mit ihren Kindern Hausaufgaben macht.
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