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Ungelöste Rätsel der Mathematik

In der Mathematik gibt es berühmte Fragen, die erst nach Jahrhunderten vergeblicher Versuche beantwortet wurden. Es gibt jedoch auch Probleme, die sich schließlich als beweisbar unlösbar erwiesen. Ihre Geschichte offenbart einiges über den Wandel, den die Mathematik in der Moderne durchmachte.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Edmund Weitz

Es ist erstaunlich, welchen immensen Einfluss das antike Griechenland noch fast zwei Jahrtausende nach seinem Untergang auf die Mathematik ausübt. Namen wie Thales, Pythagoras und Archimedes stehen für eine Bewegung, die nach und nach aus der anwendungsorientierten Mathematik Babylons und Ägyptens eine Wissenschaft und gleichzeitig eine L’art pour l’art machte. Die Beschäftigung mit „reiner“ Mathematik wurde gewissermaßen zum Distinktionsmerkmal einer vergleichsweise kleinen Gruppe wohlhabender Männer, von denen sicher niemand ahnte, wie langlebig die Fragen sein würden, die sie sich aus purem Erkenntnisinteresse stellten.

Antik anmutende Grafik mit einem alten weißbärtigen Mathematiker, der etwas aufschreibt
Schon in der Antike legten Gelehrte wie Pythagoras die Grundlagen für unser heutiges Verständnis von Zahlen und Formen | © kriserdmann/Freepik

Das bekannteste überlieferte Zeugnis dieser Ära sind die legendären Elemente von Euklid, die bis ins 19. Jahrhundert in weiten Teilen Europas als Lehrbuch verwendet wurden. Dass zur gleichen Zeit das Wort Geometer ein Synonym für Mathematiker war, ist ebenfalls eine Spätfolge der Antike. Verunsichert durch die Entdeckung der Inkommensurabilität (also der irrationalen Zahlen), die den Pythagoreern zugeschrieben wird, hatten die Griechen die Geometrie zum unanfechtbaren Fundament der Mathematik deklariert. Und in dieser hatten sie sich unter dem Einfluss der Philosophie Platons auf die „idealen Formen“ von Kreisen und geraden Strecken beschränkt. Das hatte zur Folge, dass nur als gesichert anerkannt wurde, was sich ohne weitere Hilfsmittel mit einem Zirkel und einem Lineal ohne Maßeinteilung konstruieren ließ.

Der Teenager und das 17-Eck

Viele Konstruktionen nach diesem Muster sind mehr oder weniger simple Fingerübungen, die sich auch als Schulstoff eignen, um geometrisches Vorstellungsvermögen und logisches Denken zu trainieren. Es gibt jedoch Konstruktionsprobleme, die wie unüberwindbare Gipfel wirken, obwohl sie sich von den einfacheren nur geringfügig zu unterscheiden scheinen. Beispielsweise ist es mit etwas Übung ein Leichtes, ein regelmäßiges Sechseck zu konstruieren. Ein regelmäßiges Fünfeck erfordert schon etwas mehr Denkarbeit, aber auch das war bereits zur Zeit von Euklid ein gelöstes Problem. Für Siebenecke und viele andere regelmäßige Vielecke hatte es hingegen seit der Antike keinerlei Fortschritte gegeben. Es gab zwar Vorschläge wie den von Albrecht Dürer aus dem 16. Jahrhundert, aber das waren lediglich Näherungslösungen, die aus mathematischer Sicht keine Relevanz hatten.

Daher war es eine Sensation, als der 18-jährige Carl Friedrich Gauß 1796 nachweisen konnte, dass ein regelmäßiges 17-Eck mit Zirkel und Lineal konstruierbar ist. Man stelle sich vor, welche Wellen die Lösung eines 2.000 Jahre alten Problems durch einen Teenager geschlagen hätte, hätte es damals bereits Massenmedien und soziale Netzwerke gegeben. Gauß gilt inzwischen als einer der größten Mathematiker aller Zeiten und wäre das ohne das 17-Eck vielleicht nie geworden, denn erst diese Entdeckung soll ihn von seinem ursprünglichen Plan abgebracht haben, sich der Philologie zu widmen. Im Kontext dieses Artikels ist jedoch ein anderer Aspekt interessanter.

Gezeichnetes Porträt von Carl Friedrich Gauß
Carl Friedrich Gauß gelang als Teenager eine mathematische Sensation | © Heike Stephan

Nicht erwähnenswert

Den Beweis für die Konstruierbarkeit des 17-Ecks publizierte Gauß etwas später in seinem Monumentalwerk Disquisitiones Arithmeticae. Dort legte er auch präzise dar, welche anderen regelmäßigen n-Ecke sich konstruieren lassen – unter anderem ein 257-Eck und ein 65.537-Eck. Darauf, dass sich das Siebeneck sowie alle weiteren Vielecke, auf die die von ihm angegebenen Kriterien nicht zutrafen, definitiv nicht konstruieren lassen, wies er lapidar in einem Nebensatz hin – damit niemand „seine Zeit unnütz vergeude“. Gauß wusste zu diesem Zeitpunkt auch, dass und warum weitere berühmte Konstruktionsprobleme der Antike unlösbar waren. Insbesondere gilt das für die Dreiteilung eines beliebigen Winkels und für die sogenannte Würfelverdoppelung: die Konstruktion der Seitenlänge eines Würfels, der das doppelte Volumen eines vorgegebenen hat. All das fand er jedoch nicht erwähnenswert und er verzichtete auch darauf, den besagten Nebensatz näher zu begründen.

Die Beweise lieferte 1837 ein junger Franzose namens Pierre Wantzel nach, der sich dabei auf Gauß’ Methoden stützte. Damit war endgültig nachgewiesen, dass es auf diverse Fragen, an denen sich unzählige Mathematiker:innen seit Beginn der Zeitrechnung die Zähne ausgebissen hatten, keine Antwort gab. Jegliche weitere Beschäftigung mit ihnen war erwiesenermaßen sinnlos. Wantzel starb jedoch ein paar Jahre später mit nur 33 Jahren, ohne dass seine Publikation in der Mathematikerzunft zur Kenntnis genommen worden war. Er geriet in Vergessenheit. Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, warum man am Anfang des 19. Jahrhunderts auf einmal die Unlösbarkeit einiger berühmter klassischer Probleme klären konnte und wieso das niemanden zu interessieren schien.

Eine neue Sprache

Gezeichnetes Porträt von René Descartes
René Descartes übersetzte Geometrie in Algebra | © Heike Stephan

Der erste Teil dieser Frage lässt sich mit dem immens angewachsenen Instrumentarium beantworten, das der Mathematik der Neuzeit zur Verfügung stand.

Einerseits war das im 17. Jahrhundert die Vermählung von Geometrie und Algebra durch den Franzosen René Descartes, die man heutzutage analytische Geometrie nennt. Während die griechische Mathematik Markierungen auf ihren Linealen strikt ablehnte, legte Descartes gleichsam Millimeterpapier auf die leere Ebene Euklids und ermöglichte damit durch die Zuordnung von Koordinaten die Übersetzung geometrischer Fragestellungen in die Sprache der Algebra.

Andererseits entwickelten ungefähr zur gleichen Zeit Descartes’ Landsmann François Viète und nach ihm viele weitere Mathematiker die heute übliche Formelsprache, die sogenannte symbolische Mathematik. Bis dahin hatte es nur „rhetorische“ Mathematik gegeben. Alles wurde umständlich mit Worten umschrieben. Statt x = 2a + b schrieb man etwa: „Die Unbekannte ergibt sich als Summe aus dem zweiten Wert und dem Doppelten des ersten.“

Wir Menschen des 21. Jahrhunderts nehmen diese Neuerungen als selbstverständlich hin, weil wir mit ihnen aufgewachsen sind und sie vielleicht sogar in der Schule manchmal verflucht haben.

Man muss aber einmal versuchen, einen mathematischen Text beispielsweise aus dem 16. Jahrhundert zu lesen, um zu ermessen, welche erheblichen Vorteile die neue „Sprache“ mit sich brachte. Und dabei geht es nicht nur um das Lesen, sondern vielmehr auch um das Hantieren mit den Symbolen, das nach einer gewissen Eingewöhnungszeit fast unbewusst abläuft wie das Radfahren. Die Formelsprache hilft beim Denken!

Es ist jedenfalls bezeichnend, dass die Disquisitiones von Gauß eigentlich ein Buch über Zahlentheorie waren. Seine geometrischen Resultate waren quasi „Abfallprodukte“ algebraischer Überlegungen, hätten ohne diese jedoch gar nicht das Licht der Welt erblickt.

Das erklärt allerdings nicht das Desinteresse für die erwiesene Unlösbarkeit der legendären antiken Probleme. Dieses lag darin begründet, dass sich im 19. Jahrhundert allmählich ein neues Selbstverständnis der Mathematik entwickelte, zur Zeit von Gauß aber noch das alte vorherrschte. Für ihn und seine Zeitgenossen ging es in ihrer Wissenschaft um Zahlen und „Größen“ und um die Entwicklung von Verfahren, die zu konkreten Lösungen führen. Die Konstruktion eines regelmäßigen 17-Ecks war so ein Verfahren, der Nachweis der Nichtkonstruierbarkeit eines regelmäßigen Siebenecks jedoch nicht.

Gezeichnetes Porträt von François Viète
François Viète, einer der Entwickler der symbolischen Mathematik | © Heike Stephan

Der Schönheitsfehler

Gauß stand gewissermaßen am Übergang zwischen dem Althergebrachten und dem Neuen und war indirekt auch am historisch vielleicht wichtigsten unlösbaren Problem der Mathematik beteiligt. Das entstammte ebenfalls der griechischen Antike und auch an ihm hatten sich – wie an den Konstruktionsproblemen – seitdem unzählige Mathematiker:innen ohne greifbares Ergebnis abgemüht. Es ging um Euklids Elemente. Der entscheidende Grund für die nachhaltige Wirkung dieses Weltbestsellers waren weniger die in ihm gesammelten geometrischen Resultate; vielmehr war es die Art und Weise, wie diese bewiesen wurden. Euklids Werk begann mit einigen wenigen einfachen Aussagen, den Axiomen, die offensichtlich wahr waren. Alles andere wurde mit rein logischen Argumenten aus diesen hergeleitet. Das war die sogenannte axiomatische Methode, die seitdem die Blaupause dafür lieferte, wie Mathematik betrieben wurde. Sie war der Grund dafür, dass mathematische Aussagen als zeitlos wahr angesehen wurden.

Es gab allerdings einen kleinen Schönheitsfehler. Eines der Axiome wirkte zu kompliziert. Es handelte sich um das sogenannte Parallelenpostulat, das in vereinfachter Form besagt, dass sich zwei Geraden, die eine dritte nicht im selben Winkel schneiden, irgendwann treffen werden. Sein Wahrheitsgehalt wurde zwar nicht angezweifelt, aber es war nicht so „offensichtlich wahr“ wie die restlichen Axiome, die Selbstverständlichkeiten konstatierten wie die, dass sich durch zwei Punkte eine Gerade ziehen lässt. Schon im Altertum hatten deshalb viele Mathematiker versucht, das Parallelenpostulat aus den anderen Axiomen herzuleiten und es dadurch überflüssig zu machen. Diese Bemühungen durchzogen die gesamte Geschichte der Mathematik bis ins 19. Jahrhundert. Und sie waren erfolglos.

 

Buch
Tipp

Fünf unlösbare Rätsel der Mathematik

Ein spannender Streifzug durch die Geschichte der Mathematik – für alle, die gerne über grundlegende Fragen nachdenken und wissen wollen, wo die Grenzen unseres Wissens verlaufen.

Edmund Weitz: Fünf unlösbare Rätsel der Mathematik. Wie sich eine Wissenschaft selbst die Grenzen aufzeigt. Rowohlt Taschenbuch, 272 S., 15 Euro, 2025

„Eine neue, andere Welt“

Gezeichnetes Porträt von Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski
Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski, Mitbegründer der nichteuklidischen Geometrie | © Heike Stephan

Wie wir heute wissen, mussten sie erfolglos bleiben. Ungefähr zu der Zeit, als Wantzel an seinen Beweisen arbeitete, entwickelten unabhängig voneinander ein Russe und ein Ungar – Nikolai Iwanowitsch Lobatschewski und János Bolyai – das Konzept der sogenannten nichteuklidischen Geometrie. In dieser Geometrie gilt das Parallelenpostulat nicht, während die anderen Axiome Euklids ihre Gültigkeit behalten. Mit Bolyais Worten ergibt sich dadurch „eine neue, andere Welt“, die zwar teilweise ungewohnt erscheint, rein logisch aber nicht zu beanstanden ist. Diese neue Welt war der Beleg dafür, dass alle Versuche, das Parallelenpostulat zu beweisen, scheitern mussten.

Es erging Lobatschewski und Bolyai allerdings ähnlich wie Wantzel. Aus heutiger Sicht waren ihre Ergebnisse eine Sensation und ein Wendepunkt in der Geschichte der Mathematik; zu ihren Lebzeiten blieb ihnen die entsprechende Anerkennung jedoch versagt. Das änderte sich erst, als posthum die Briefe von Gauß veröffentlicht wurden, aus denen hervorging, dass er selbst ähnliche Gedanken gehabt hatte. Gauß’ mathematische Autorität sowie ein Modell der nichteuklidischen Geometrie, das der Italiener Eugenio Beltrami 1868 publizierte, beseitigten schließlich alle Zweifel daran, dass ein weiteres klassisches Problem der Mathematik sich als unlösbar erwiesen hatte.

Was ist noch wahr?

Dieses Unlösbarkeitsresultat hatte jedoch eine ganz andere Qualität als die Sache mit den Konstruktionsproblemen, die man in gewissem Sinne als Knobelaufgaben unter erschwerten Bedingungen abtun könnte. Die seit der Antike bestehende Gewissheit über die Unfehlbarkeit der Mathematik beruhte darauf, dass die Axiome von Euklid, die vermeintlich das feste Fundament bildeten, „offensichtlich“ die wirkliche Welt um uns herum beschrieben. Wenn es aber mehr als eine mögliche Geometrie gibt, gibt es dann vielleicht auch mehr als eine Mathematik und gar mehrere Wahrheiten?

Am Ende des 19. Jahrhunderts läuteten solche Fragen eine veritable Krise der Mathematik ein, die sich über Jahrzehnte hinziehen und zu hitzigen Diskussionen innerhalb der Zunft führen sollte. Sie gipfelte in dem Versuch, die Mathematik dadurch zu „retten“, dass man sie in ihrer Gesamtheit nach dem Vorbild der axiomatischen Methode Euklids aufbaute, aber mit wesentlich strengeren Regeln, die auf der modernen Logik basierten. Auch dieses Unterfangen sollte sich schließlich als unlösbares Problem erweisen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Videotipps

Auf dem YouTube-Kanal Weitz/HAW Hamburg finden Sie über 2.000 spannende Mathematik- und Informatikvideos von Prof. Dr. Edmund Weitz, viele davon Teile seiner Vorlesungen. Absolut lohnenswert!

Gezeichnetes Porträt vom Autor Prof. Dr. Edmund Weitz

Prof. Dr. Edmund Weitz

ist Professor für Mathematik und Informatik an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und Autor. In seinen beliebten Weihnachtsvorlesungen und in seinen Büchern bringt er Tausenden Menschen die Schönheit und Kreativität der Mathematik nahe.

© Headerbild | kriserdmann/Freepik; © Autorenporträt | Heike Stephan

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