Skip to content

Spiraloeder – ein Ausflug in die 15. Dimension

Wenn man einen n-dimensionalen Würfel geeignet zurechtstutzt, nimmt sein dreidimensionaler „Schatten“ bemerkenswerte Formen an. Diese faszinierenden Projektionen geben uns Einblicke in die verborgenen Strukturen höherdimensionaler Räume, die sich unserer direkten Vorstellungskraft entziehen. Doch was genau verbirgt sich hinter diesen rätselhaften Dimensionen? Und wie können wir uns das Unvorstellbare doch ein Stück weit begreifbar machen?

Ein Beitrag von Dr. Christoph Pöppe

Der erste Schritt auf unserer Reise in höhere Dimensionen ist im wahrsten Sinne des Wortes kinderleicht. Sie können das Experiment selbst durchführen oder als Unterrichtseinheit in den Mathematikunterricht einbinden.

Schritt 1: Rauten auslegen

Schneiden Sie aus gelbem, blauem und rotem Papier ein paar Rauten mit dem Öffnungswinkel 60 Grad aus (siehe Downloadmaterial). 

Dann belegen Sie mit diesen Rauten lückenlos und ohne Überdeckung die Tischplatte. Die einzige Vorschrift lautet, dass die gelben Rauten stehend, die blauen aufsteigend und die roten absteigend zu legen sind.

Es dauert nicht lange, dann springt einem eine räumliche Struktur ins Auge: Je nachdem, wie Sie die Rauten gelegt haben, hat sich ein mehr oder weniger ordentlicher Stapel aus lauter Würfeln gebildet. Es ist sogar möglich, aus diesem Stapel einen Würfel wegzunehmen oder hinzuzufügen, indem man ein Sechseck aus drei verschiedenfarbigen Rauten herausnimmt und umgedreht wieder einsetzt.

Der gedachte Würfel steht auf einer Ecke, seine gegenüberliegende Ecke ist genau vertikal darüber, und wir betrachten das Ganze genau von oben: eine Parallelprojektion. Das gilt ebenso für alle anderen Würfel des Stapels. Von oben sehen wir nur die drei Flächen, die der obersten Ecke anliegen; nimmt man sie weg, so kommen die drei anderen Flächen des Würfels zum Vorschein.

Gelegtes Spiraloeder
In einem vorschriftsgemäß gelegten Rautenmuster sieht der Betrachter spontan einen räumlichen Aufbau | © Christoph Pöppe

Schritt 2: Dimensionen erweitern

Jetzt machen wir dasselbe für n statt drei Dimensionen. Wir stellen einen n-dimensionalen Einheitswürfel auf die Ecke (0, 0, …, 0) und legen die gegenüberliegende Ecke (1, 1, …, 1) genau „vertikal darüber“. Das heißt, wir projizieren entlang der Geraden durch diese beiden Ecken. Der Einfachheit und der Symmetrie zuliebe sollen die n Einheitsvektoren auf Punkte in der Ebene abgebildet werden, die in gleichen Abständen auf dem Umfang des Einheitskreises liegen. Dadurch sind alle Kanten auch in der Projektion gleich lang, alle quadratischen Flächen werden perspektivisch zu Rauten verzerrt, und deren Sortiment ist sehr begrenzt, da zwischen den projizierten Einheitsvektoren nur wenige Winkel vorkommen. Für ungerade n gibt es nicht mehr als (n–1)/2 verschiedene Rauten.

Für n=3 ergibt diese Projektion das oben beschriebene Sechseck aus drei Rauten. Für höhere Dimensionen werden nicht nur die n Seitenflächen sichtbar, die an den Punkt (1, 1, …, 1) angrenzen, sondern deutlich mehr. Die äußere Begrenzung des Projektionsbilds ist in jedem Fall ein regelmäßiges (2n)-Eck.

Auch im n-dimensionalen Fall kann man drei Quadrate, die einem Eckpunkt anliegen, wegnehmen, woraufhin drei andere Quadrate zum Vorschein kommen, die gemeinsam mit den weggenommenen einen dreidimensionalen Grenzwürfel bilden. Dem entspricht im Projektionsbild die Aktion, ein Sechseck aus drei aneinandergrenzenden Rauten aus dem Bild herauszunehmen und umzudrehen. Dadurch tun sich neue Sechsecke auf, die ihrerseits umgedreht werden können.  

Schritt 3: Dreidimensionale Schatten des Einheitswürfels bilden

Gehen wir jetzt nicht nur von drei- zu n-dimensionalen Würfeln über, sondern auch im Bildraum von zwei auf drei Dimensionen. Das geht einfach: Man erhebt den Kreis mit den projizierten Einheitsvektoren ein Stück über die (x, y)-Ebene hinaus. Dann stehen die Rauten, die an den Nullpunkt grenzen, schräg nach oben. Der nächste Kranz an Rauten steht schon etwas steiler, der dritte noch etwas mehr, bis die Rauten nach innen kippen und sich schließlich wieder in einem Punkt treffen. Das ist das Bild der fernsten Ecke des n-dimensionalen Einheitswürfels, des Punktes mit den Koordinaten (1, 1, …, 1). So entstehen die sogenannten „polaren Zonoeder“.

Mathematische Formen und ihre Schatten
Polare Zonoeder sind dreidimensionale „Schatten“ (Bilder unter Parallelprojektion) der Einheitswürfel im n-dimensionalen Raum für verschiedene Werte von n. Der Schatten des gewöhnlichen Würfels (n=3) ist er selbst. Der Schatten des vierdimensionalen Würfels ist das sogenannte Rhombendodekaeder: zwölf gleiche Rauten, von denen sich jeweils vier mit den spitzen Winkeln und jeweils drei mit den stumpfen Winkeln in einem Eckpunkt treffen. Unter jedem Zonoeder ist dessen zweidimensionaler Schatten abgebildet, der zugleich auch der zweidimensionale Schatten des entsprechenden Einheitswürfels ist. Die dicke grüne Linie am Zonoeder für n=17 kennzeichnet einen durchgehenden Spiralweg von Pol zu Pol. | © Christoph Pöppe

Sie heißen „polar“, weil sie zwei prominente „Pole“ haben, an denen sich jeweils n Rauten treffen, und „Zonoeder“, weil sie aus lauter „Gürteln“ bestehen (Zone ist das altgriechische Wort für Gürtel). Gemeint sind Folgen von rautenförmigen Seitenflächen, bei denen jede Raute über zwei nicht benachbarte – und damit parallele – Seitenflächen mit ihrer Nachbarin verbunden ist. Bei diesen Zonoedern kreuzen sich in jeder Raute sogar zwei Gürtel, und der ganze Körper ist spiegelsymmetrisch. Alle Gürtel verlaufen spiralförmig von Pol zu Pol. Zu allem Überfluss ist ein Zonoeder n-zählig rotationssymmetrisch bezüglich der Achse, die durch beide Pole verläuft.

Im Inneren jedes polaren Zonoeders stecken zahlreiche Rhomboeder, das sind perspektivisch verzerrte (dreidimensionale) Würfel. Sie überlappen sich vielfach, aber man kann aus den vielen Rhomboedern eine Teilmenge auswählen, die den ganzen Körper lückenlos und ohne Überlappungen ausfüllt. Wieder ist das Sortiment an Winkeln zwischen den Projektionen der Einheitsvektoren eng begrenzt – und damit auch das Sortiment an Rauten und Rhomboedern. Deswegen treten sogar getreue Kopien von Teilen der Oberflächenstruktur zutage, wenn man eine geeignete Teilmenge an Rhomboedern wegnimmt.

Von Zonoedern zu Spiraloedern

Zwei Männer, die einen selbst gebauten Spiraloeder in den Händen halten
Dreizählig-symmetrische Spiraloeder lassen sich in beliebiger Anzahl lückenlos zusammenpacken | © Christoph Pöppe

Anfang der 1980er-Jahre stieß ein Mensch namens Russell Towle aus der kalifornischen Kleinstadt Dutch Flat auf die Zonoeder – eine Begegnung, die sich zu einer jahrzehntelangen Besessenheit entwickelte. Dabei entdeckte er eine merkwürdige neue Art von dreidimensionalem Körper. Wenn zum Beispiel n = 15 = 3 × 5 ist, dann kann man von den 15 Spiralwegen von Pol zu Pol jeden fünften stehen lassen und alle anderen entfernen, indem man die angrenzenden Rhomboeder wegnimmt – und nicht nur die, sondern so viele, dass wieder eine glatt aussehende Teilfläche entsteht. Wenn allgemein × k Produkt zweier Faktoren ist, die beide größer als 1 sind, dann kann man aus dem polaren Zonoeder der Größe n einen Körper herausschälen, der k spiralförmige „Grate“ und dazwischen vergleichsweise glatte Teilflächen hat, die der Oberfläche des Zonoeders zumindest teilweise ähnlich sehen. 

Towle hat diese Körper „Spiraloeder“ („spirallohedra“) genannt. Sie sind interessant gebaut, haben aber offensichtlich weniger Symmetrie als ihr Ursprungskörper. Von der n-zähligen Symmetrie des Zonoeders ist nur noch eine k-zählige übrig geblieben, und die Spiegelsymmetrien sind gänzlich verschwunden. Dafür haben sie eine neue Eigenschaft, zumindest wenn k gleich 3, 4 oder 6 ist: Sie sind Raumfüller. Man kann beliebig viele Exemplare dicht an dicht und lückenlos zusammenpacken. Dabei sind sie in allen drei Raumrichtungen periodisch angeordnet: Jedes Spiraloeder der Packung geht aus jedem anderen durch eine Parallelverschiebung hervor.

Towle hat sehr viel am Computer mit den Spiraloedern experimentiert. Und wenn er nicht 2008 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen wäre, hätte er zweifellos die bislang noch unvollständige Theorie dieser Körper weiter vorangetrieben.

Download

Die 60-Grad-Rauten stehen Ihnen hier zum Download zur Verfügung:

Wenn Sie selbst Spiraloeder bauen (lassen) wollen, können Sie sich hier die Vorlagen inklusive Bauanleitung herunterladen:

Eine Literatur- und Linksammlung mit vielen weiteren spannenden Informationen zu Zonoedern und Spiraloedern finden Sie hier

Headerbild | © Taken/Pixabay

Beitrag teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Pinterest
XING
WhatsApp
Email

Ähnliche Beiträge

Eine Gruppe von Schülerinnen in weißen Kitteln arbeitet an einem Experiment
16. Juli, 2025
Spaß, Spannung und Aha-Momente – all das kann sich hinter der Tür eines Chemieraumes verbergen. Trotzdem zählt Chemie in Deutschland nicht gerade zu den beliebtesten Schulfächern. Die Gründe dafür sind vielfältig und sicherlich vielen Chemielehrkräften bestens bekannt: komplexe Inhalte, fehlende Begeisterung, dazu kommt der aktuelle Lehrkräftemangel und zunehmender Unterrichtsausfall. Anlass genug, ein bisschen Spiel in die Chemieräume zu bringen – mit einem spannenden Projekt im Escape-Game-Design, das Chemie erlebbar macht.
Abstrakte Zusammenstellung aus Wellen, Licht und mathematischen Formeln
10. Juli, 2025
Wie entstand die Quantenmechanik? Welche Leitideen führten die Forschung vor 100 Jahren zu einer so schwer fassbaren Theorie? Und wer waren die Protagonisten dieser neuen Wissenschaft, die der scheinbar einfachen Frage nachgingen: Was ist Licht?
Behandschuhte Hände mit einer Pipette, die ein Blatt greift
2. Juli, 2025
Jeanny Jaline Jerschow-Schaumann, 27 Jahre alt, liest die Zutatenlisten von Lebensmitteln nicht nur: Sie versteht sie auch. Als Lebensmitteltechnikerin erforscht sie Möglichkeiten, um die Haltbarkeit von Hühnerbrust, Joghurt und Co mithilfe antimikrobieller Peptide zu verlängern. Dabei setzt sie große Hoffnung auf die Larven der Schwarzen Soldatenfliege …
Verschiedene mathematische Formen wie Pyramide und Würfel
25. Juni, 2025
Wenn man einen n-dimensionalen Würfel geeignet zurechtstutzt, nimmt sein dreidimensionaler „Schatten“ bemerkenswerte Formen an. Diese faszinierenden Projektionen geben uns Einblicke in die verborgenen Strukturen höherdimensionaler Räume, die sich unserer direkten Vorstellungskraft entziehen. Doch was genau verbirgt sich hinter diesen rätselhaften Dimensionen? Und wie können wir uns das Unvorstellbare doch ein Stück weit begreifbar machen?
Ein Astronaut fliegt durchs Weltall
Gesponserte Inhalte
18. Juni, 2025
Wenn Raketen ins Weltall starten, Sonden ferne Planeten erreichen oder Astronautinnen und Astronauten von ihrem Leben auf der Internationalen Raumstation (ISS) berichten, sind nicht nur Schülerinnen und Schüler begeistert. Die Raumfahrt verbindet auf einzigartige Weise Abenteuer, Technologie und Wissenschaft. Das Schulmaterial der Deutschen Raumfahrtagentur im DLR und Klett MEX zeigt Ihnen, wie Sie diese Faszination in Ihrem MINT-Unterricht nutzen können.
Gruppe von Schülerinnen, die in der Schule lernen
17. Juni, 2025
Wie sind wir zu den Menschen geworden, die wir heute sind? Wer sind unsere Vorfahren und mit wem sind wir nah verwandt? Die Evolution des Menschen ist ein faszinierendes, aber oft abstraktes Thema im Biologieunterricht. „EvoChange“ macht die Humanevolution greifbar und interaktiv – und hilft Schüler:innen, die Entwicklung des Homo sapiens besser zu verstehen.
Mann in Warnweste prüft Solaranlage
10. Juni, 2025
Moderne Technologien, wie sie in Solarkraftwerken, künstlicher Intelligenz oder Großprojekten zur CO2-Entnahme aus der Atmosphäre eingesetzt werden, sind immer sowohl mit positiven Erwartungen in Bezug auf den gesellschaftlichen Nutzen als auch mit Befürchtungen bezüglich damit einhergehender Risiken verbunden (Dusseldorp 2021). Während wissenschaftliche Analyse und erfahrungsgestützte Expertise prognostizieren können, welche Auswirkungen neue Technologien voraussichtlich haben, bleibt die Abwägung von Nutzen und Risiko sowie deren gerechte Verteilung auf die Gesellschaft eine politische und wertgeleitete Frage, die nach demokratischen Prinzipien zu entscheiden ist (Sigwar 2021).
Zwei lächelnde Schülerinnen sitzen vor einem Laptop und machen sich manuell Notizen
3. Juni, 2025
Der Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) eröffnet dem Unterricht, wie wir ihn bisher kannten, völlig neue Möglichkeiten, zum Beispiel durch interaktive Rollenspiele. Anders als bei Rollenspielen mit Mitschüler:innen entstehen im Gespräch mit der KI jedoch echte Dialogsituationen mit offenem Ausgang, da die Lernenden die Reaktionen der KI nicht vorhersehen können. Hier kommt eine Idee, wie ein solches Rollenspiel im Physikunterricht zum Thema Radioaktivität umgesetzt werden kann.
Mond am schwarzen Nachthimmel
27. Mai, 2025
Unser himmlischer Begleiter stabilisiert nicht nur die Erdachse, was Klimakapriolen verhindert, sondern war uns früher wesentlich näher. Ohne ihn wäre die Evolution ganz anders verlaufen …
Gruppe lachender Frauen halten brennende Wunderkerzen in den Händen
21. Mai, 2025
Am Mittwochmorgen nach dem Unterricht sagt die Lehrerin: „Die nächste Lateinstunde ist in acht Tagen.“ In acht Tagen? Meint sie also am Donnerstag nächster Woche? Nein, wahr-scheinlich nicht. Vermutlich meint sie damit den nächsten Mittwoch, auch wenn bis dahin nur sieben Tage verstreichen. Die Redewendung „in acht Tagen“ für „in einer Woche“ ist uralt und geht auf die Zählweise der Römer zurück.
Drei Kinder stehen mit Tablets in den Händen vor einem virtuellen Eisbären
14. Mai, 2025
Die Anwendung „Reise in die Arktis“ von Heartucate bringt Schüler:innen ab der Sekundarstufe I die faszinierende Welt der Klimaforschung näher. Mit Augmented Reality tauchen sie in die raue, eisige Landschaft der Arktis ein, unterstützen Professor Aureus bei wissenschaftlichen Aufgaben und erstellen mit den von ihnen ermittelten Daten gemeinsam einen Klimabericht. Durch praxisnahe Aufgaben und interaktives Lernen fördert das Projekt das Bewusstsein für den Klimawandel und gibt Anregungen, wie jeder einen Beitrag zum Schutz unserer Erde leisten kann.
Schüler:innen bauen gemeinsam mit LEGO SPIKE Prime.
Gesponserte Inhalte
7. Mai, 2025
Stellen Sie sich vor, ein Nashorn rollt durch Ihr Klassenzimmer – nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus LEGO®-Steinen gebaut und programmiert von Ihren Schüler:innen. Sie blicken in konzentrierte, faszinierte Gesichter und sehen, wie sich Knoten lösen, die sich im rein theoretischen Unterricht oft nur enger ziehen. Was zunächst vielleicht lediglich spielerisch-niedlich wirkt, wird im MINT-Unterricht zum Aha-Erlebnis, denn wenn Technik begreifbar wird, beginnt echtes Verstehen. Und plötzlich macht Lernen für die Schüler:innen wieder Sinn.