Moderne Technologien, wie sie in Solarkraftwerken, künstlicher Intelligenz oder Großprojekten zur CO2-Entnahme aus der Atmosphäre eingesetzt werden, sind immer sowohl mit positiven Erwartungen in Bezug auf den gesellschaftlichen Nutzen als auch mit Befürchtungen bezüglich damit einhergehender Risiken verbunden (Dusseldorp 2021). Während wissenschaftliche Analyse und erfahrungsgestützte Expertise prognostizieren können, welche Auswirkungen neue Technologien voraussichtlich haben, bleibt die Abwägung von Nutzen und Risiko sowie deren gerechte Verteilung auf die Gesellschaft eine politische und wertgeleitete Frage, die nach demokratischen Prinzipien zu entscheiden ist (Sigwar 2021). Um weitreichende Entscheidungen mit potenziell positiven und negativen Folgen fundiert, wertangemessen und gerecht treffen zu können, ist ein breiter gesellschaftlicher Diskurs somit essenziell (OECD 2020). Hier kommen partizipative Verfahren ins Spiel.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Ortwin Renn
Eine der wesentlichen Aufgaben der MINT-Disziplinen ist es, auf der Basis naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und praktischer Erfahrungen technische Lösungen zur Bewältigung globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel, Pandemien oder der Sicherung der Welternährung bereitzustellen. So unbestritten es ist, dass die Menschheit auf den Einsatz von Technik angewiesen ist, so dürfen auch damit einhergehende unerwünschte Nebenwirkungen nicht ignoriert werden; im schlimmsten Fall können sie den möglichen Nutzen sogar überwiegen (Beck 2007). Ein verantwortungsbewusster Umgang mit Technik erfordert daher eine sachgerechte und ethisch reflektierte Bewertung ihrer Anwendung in unterschiedlichen Bereichen.
Warum es keine „gute“ und „schlechte“ Technik geben kann
Technikbewertungen beruhen also auf einer Kombination von wissenschaftlicher Folgenabschätzung und der wertgebundenen Abwägung der positiven und negativen Folgen bzw. Erwartungen nach bestimmten Gütekriterien, darunter volkswirtschaftlicher Nutzen, Komfortsteigerung, Umweltbelastungen oder Verteilungswirkungen. Bleiben wir zunächst einmal bei der Aufgabe der Folgenabschätzung. Dabei sind drei wesentliche Herausforderungen zu meistern: die Komplexität der miteinander vernetzten Ursache-Wirkungs-Ketten, die Ungewissheit bezüglich Chancen und Risiken einer Entwicklung und die Ambivalenz technischer Entwicklungen (Renn 2009).
Stichwort Ambivalenz: Die Hoffnung, negative Technikfolgen zu vermeiden, ist trügerisch, weil es eine Technik mit ausschließlich positiven Auswirkungen weder gibt noch geben kann. Die Anerkennung der Ambivalenz bedeutet, sich von absoluten moralischen Urteilen über Technik zu lösen. Sie erfordert eine differenzierte Betrachtung, die pauschale Einteilungen in moralisch gerechtfertigte und moralisch ungerechtfertigte Technologien hinterfragt (Liebert und Schmidt 2018). So hat die Solarenergie ebenso ihre Umweltrisiken, wie die Kernenergie ihre unbestreitbaren Vorteile aufweist. Ambivalenz ist das Wesensmerkmal jeder Technik. Daher kommt man an einer auf Werten beruhenden Abwägung der positiven und negativen Folgen nicht vorbei. Zur Abwägung gehören immer zwei Elemente: Sachwissen und eine wertgebundene Urteilskraft. Allein mit Wissen lässt sich keine ethisch vertretbare Entscheidung über den Einsatz von Technologien treffen, selbst wenn es keine Unsicherheiten geben würde.
Vorausschau liefert nur Folgenpotenziale, keine Folgensicherheit

Jede Folgenabschätzung ist allerdings durch komplexe Wechselwirkungen und Unsicherheiten geprägt, was das Bewertungsprozedere erschwert. Mit Komplexität ist hier der Umstand gemeint, dass mehrere Ursache-Wirkungs-Ketten parallel auf die Realisierungschancen von unterschiedlichen Technikfolgen einwirken und sich synergistisch oder antagonistisch beeinflussen (Prieler et al. 2022). Selbst wenn die Technikforscher:innen jede einzelne Wirkungskette kennen würden, verbleibt das Problem der mangelnden Kenntnis der jeweils wirksamen interaktiven Effekte. Diese im Einzelnen analytisch aufzuspüren, ist nicht nur eine kaum zu bewältigende Sisyphusarbeit, sie erfordert auch ein ganzheitliches Systemverständnis, das häufig nicht vorhanden ist.
Eng gekoppelt an das Problem der Komplexität ist die unvermeidbare Ungewissheit über Inhalt und Richtung der zukünftigen Entwicklung (Renn 2024). Wenn die Menschen in der Tat im Voraus wüssten, welche Folgen sich mit bestimmten Technologien einstellen, fiele es ihnen leichter, eine Abwägung zu treffen und auch einen Konsens über Kriterien zur Beurteilung von Folgen zu erzielen. Doch die Wirklichkeit ist komplizierter. Technikeinsatz ist immer mit unterschiedlichen und unsicheren Zukunftsmöglichkeiten verbunden, deren jeweilige Realisierungschance sich überwiegend der Kontrolle der Gesellschaft entzieht. Die Frage ist, inwieweit sich die Mitglieder einer Gesellschaft auf die Gestaltung von riskanten Zukunftsentwürfen einlassen und sich von den nicht auszuschließenden Möglichkeiten negativer Zukunftsfolgen abschrecken lassen wollen. Wie viel potenziellen Nutzen sind sie bereit in Kauf zu nehmen, wenn ebenso große Risiken bestehen?
Kennt man die möglichen Folgen und die Wahrscheinlichkeiten ihres Eintreffens (oder besser gesagt: glaubt man sie zu kennen), dann beurteilt man die Wünschbarkeit der jeweiligen Folgen auf der Basis von Bewertungskriterien. Doch woher kommen diese Kriterien und wie kann man zwischen verschiedenen Optionen, bei denen Wertkonflikte auftreten, eine Auswahl treffen?
Möglichkeiten der Beteiligungsverfahren
Hier kommen nun die unterschiedlichen Beteiligungsverfahren ins Spiel. Es gibt eine Vielzahl von Verfahren und Möglichkeiten, Bewertungsdiskurse für Entscheidungen über Technik und deren Einsatz zu führen (Landwehr 2012). Geht es mehr um gemeinsame Selbstverpflichtung oder Selbstbindung, haben sich runde Tische und spezielle Techniken wie Zukunftswerkstatt oder Open-Space-Forum bewährt. Für die Behandlung wissenschaftlicher Streitfragen sind Instrumente wie Delphi, Gruppendelphi, metaanalytische Werkstätten oder Konsensuskonferenzen geeignet. Stehen dagegen Interessen- oder Wertkonflikte im Raum, die behandelt und wenn möglich aufgelöst werden sollen, lassen sich Mediations- und Schlichtungsverfahren einsetzen. Für eine Beteiligung der nicht organisierten Bürger:innen sind Bürgerforen oder Bürgerräte die richtigen Instrumente (Überblick in: Benighaus und Renn 2016; Löw-Beer 2022).
Bürgerräte zielen durch die Rekrutierung der Teilnehmenden per Zufallsauswahl und ihr Prozessdesign darauf ab, die konsultative Einbindung von Perspektiven der Bevölkerung in die inhaltliche Ausgestaltung von wichtigen politischen Streitfragen, in unserem Falle des Technologieeinsatzes, zu ermöglichen. Darüber hinaus sollen diese Prozesse Selbstwirksamkeitserfahrungen für die Beteiligten ermöglichen und so zur Stärkung der demokratischen Kultur beitragen (Curato et al. 2017).
Merkmale von Bürgerräten
- Die Teilnehmenden von Bürgerräten werden nach dem Zufallsprinzip Meist wird dazu das öffentliche Einwohnermelderegister genutzt.
- Bürgerräte sind konsultativ an die repräsentative Demokratie angebunden. Als nicht formalisierte Beteiligungsform verfügen Bürgerräte von sich aus über keine unmittelbare Wirkkraft auf politische Entscheidungsprozesse.
- In Bürgerräten arbeiten die Teilnehmenden in Arbeitsformaten zusammen, die von professionellen Prozessbegleitenden konzipiert und umgesetzt werden.
- Je nach Fragestellung bzw. Mandatierung eines Bürgerratsprozesses spielt auch die Einbindung von Expert:innen, Betroffenen oder Vertreter:innen unterschiedlicher Positionen eine wichtige Rolle. (Oppold und Renn 2022)
Unterschiedliche Diskursverfahren wie Bürgerräte oder runde Tische lassen sich auch kombinieren. Sowohl die Interessenlogik, die bei runden Tischen mit Vertreter:innen organisierter Gruppen vorherrscht, als auch die Gemeinwohllogik, die bei Bürgerräten im Vordergrund steht, können sich in Kombination gegenseitig ergänzen und die Qualität der Beratungen verbessern.
Fazit
Selbst wenn es gelingt, all diese Beteiligungsformate ergebnisorientiert und effizient zu führen, so werden sie dennoch keine akzeptablen Lösungen hervorbringen, wenn die Probleme von Komplexität, Ambivalenz und Unsicherheit nicht selbst zum Thema gemacht werden. Technikanwender:innen wie Technikbetroffenen muss deutlich werden, dass mit jeder Technikanwendung Risiken verbunden und Schäden auch bei bester Absicht und größter Vorsorge nicht auszuschließen sind. Erst die Bewusstmachung der verbleibenden Risiken eröffnet neue Strategien, kreativ und vorsorgend mit Komplexität, Ambivalenz und Ungewissheit umzugehen. Neue Formen der Beteiligung können hier einen wichtigen Beitrag leisten, weil sie die Perspektiven und Werte der Bürger:innen aktiv in den Entscheidungsprozess mit einbeziehen.
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