Lampenfieber vor einer Präsentation, Prüfungsangst oder einfach ein stressiger Schultag – Stress gehört für viele Schüler:innen leider zum Schulalltag, ebenso wie für Lehrkräfte. Doch zu viel davon kann die Konzentration und das Wohlbefinden beeinträchtigen. Genau hier kommt der Vagusnerv ins Spiel: Wie kein anderer Nerv hat der längste Nerv unseres Körpers, der Vagusnerv, und das damit verbundene parasympathische Nervensystem, in den letzten Jahren höchstes Interesse bei gesundheitsorientierten Menschen gewonnen. Kein Wunder, ist er doch DAS zentrale Kommunikationsorgan zwischen dem Gehirn und den Körperorganen. Das Beste: Er lässt sich aktivieren.
Ein Beitrag von Maximilian Moser, Medizinische Universität Graz
Der Vagusnerv koordiniert und dirigiert unser Körperorchester, er beruhigt das Herz, fördert die Aktivität unserer Drüsen (etwa der Speicheldrüsen) und verhilft uns zu gutem und erholsamem Schlaf. Er meldet Entzündungen ans Gehirn und beruhigt entzündete Areale. Damit erfüllt er die idealen Voraussetzungen, unser Immunsystem und damit unsere Gesundheit zu steuern.
Eine der wesentlichen Eigenschaften des Immunsystems ist es, über Entzündungen Heilungsprozesse im Organismus zu initiieren, Fremdkörper wie Viren, Bakterien und Pilze zu beseitigen und Krebszellen frühzeitig zu eliminieren. Um dies bewirken und Eindringlinge frühzeitig bekämpfen zu können, muss das Immunsystem relativ „scharf“ gestellt sein. Andererseits sollte es jedoch gesunde Körperzellen verschonen und nicht beschädigen. Diese feine Balance wird nach neuesten Forschungen über den Vagusnerv gesteuert. Er ist das Zünglein an der Waage zwischen zu radikaler und zu schwacher Wirkung des Immunsystems. Er dämpft und beruhigt das Immunsystems, das ohne diese Mediation mit den schädlichen Zellen auch die nützlichen beseitigen würde.
Mangelnde Gesundheitsbildung im Schulsystem
Wird die Aktivität des Vagusnervs schwach, wie dies zum Beispiel im Alter der Fall sein kann, so zeigt sich eine erhöhte Entzündungsneigung im Organismus. Und gerade diese hat sich als Ursache vieler chronischer Erkrankungen wie Diabetes Typ 2, Gelenksentzündungen, Arterienerkrankungen und sogar Krebs herausgestellt. Man spricht dabei von silent inflammations oder chronischen Entzündungsherden im Körper, die zum rechten Zeitpunkt gehemmt werden müssen, wenn wir gesund bleiben und viele gute Lebensjahre haben wollen.
Die Kenntnis und Förderung der Vagusaktivität steht daher im Zentrum der „Gesundheitsbildung“, einer Wissenschaft, die in der Medizin und auch im Gesundheitssystem ebenso wie im Schulsystem bisher leider einen sehr geringen Stellenwert hatte. Dabei könnte gerade in der Schule, wo sowohl Schüler:innen als auch Lehrkräfte täglich mit Leistungsdruck und hohen Anforderungen konfrontiert sind, das Wissen über den Vagusnerv eine wichtige Rolle spielen.
In allerjüngster Zeit wurde noch ein weiterer Aspekt der Vagusaktivität entdeckt: die Kommunikation des Gehirns mit dem Mikrobiom, den nützlichen Bakterien in unserem Körper. 2023 konnte erstmalig gezeigt werden, dass die Vielfältigkeit und damit die Stabilität des Mikrobioms im menschlichen Körper mit der Stärke der Vagusaktivität gekoppelt ist. Eine höhere Vagusaktivität war dabei mit einem „gesünderen“, weil vielfältigeren Mikrobiom verbunden. Auch das Mikrobiom ist ein Hotspot der medizinischen Gesundheitsforschung, da es bei kranken Menschen durchgängig in seiner Vielfalt kompromittiert ist. Vor allem die schädliche „Western Diet“ (gemeint ist eine kohlenhydrat-, zucker- und fleischreiche, industriell basierte Fast-Food-Diät), die mit vielen Erkrankungen verbunden ist, hat eine starke Reduktion der Vielfalt des Mikrobioms zur Folge.

Was der Tausendfüßler mit dem Vagusnerv zu tun hat
Sie kennen sicher die Geschichte von dem Tausendfüßler, der sich elegant durch den Wald schlängelte, durch das Moos, über den Waldboden und die Baumwurzeln. Dies beobachtete der schlaue Fuchs, trabte neben ihm her und fragte harmlos: „Sag, wie machst du das, werter Tausendfüßler, dass du all deine Füße so elegant bewegst, ohne sie durcheinanderzubringen oder ins Stolpern zu kommen?“ Der Tausendfüßler hielt kurz inne und dachte nach, wie er das eigentlich wirklich bewerkstelligte. Er konnte es aber nicht erklären und begründen und schüttelte nur unwillig seinen Kopf. Als er wieder loslaufen wollte und nun genau auf die Bewegung seiner Beine achtete, verhedderte er sich mit dem ersten im zweiten Beinpaar, mit dem vierten im dritten und so weiter und kam gar nicht mehr vom Fleck. Der Fuchs konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, schnappte sich den Tausendfüßler und fraß ihn auf.
So wie der Tausendfüßler normalerweise nicht nachdenken muss, wie er seine tatsächlich „nur“ bis zu 700 Beine bewegt, müssen wir Menschen, solange wir gesund sind, nicht nachdenken, wie wir atmen, wie schnell unser Herz schlägt oder wie unsere Verdauungsperistaltik abläuft. Auch auf die Produktion von Hormonen müssen wir nicht achtgeben. All das macht unser vegetatives Nervensystem, das größte und wichtigste Steuerorgan unserer Lebensabläufe, ganz ohne unser bewusstes Zutun. Es wird aus diesem Grund auch autonomes, also selbstständiges Nervensystem genannt.
Die beiden Anteile des vegetativen Nervensystems
Zwei Extremzustände unseres Lebens – die Bewältigung lebensbedrohlicher Gefahren durch Flucht, Kampf oder das Totstellen auf der einen und Schlaf auf der anderen Seite – haben zur Ausprägung von zwei verschiedenen Anteilen unseres vegetativen Nervensystems geführt: Sympathikus und Parasympathikus. Der Vagusnerv ist dabei der längste Nerv des parasympathischen Systems, weshalb dieser Name vereinfachend und platzsparend für das gesamte parasympathische System verwendet wird.
1. Sympathikus – Lebensretter ohne Rücksicht auf Verluste
Der Sympathikus ist unser Aktivierungs- und Rettungssystem in der Not. Er ist über unsere Sinnesorgane auch an der Warnung vor Gefahren beteiligt, wir können ihn daher auch als „Warnnerv“ bezeichnen. Besonders in Extremsituationen nimmt er keine Rücksicht auf Verluste und peitscht den Organismus zu Höchstleistungen an, auch wenn das innere Gefahren mit sich bringt. So erhöht er zum Beispiel die Herzleistung durch eine Erhöhung der Schlagfrequenz, was im Extremfall die Durchblutung des Herzens vermindert und zu Kammerflimmern und einem Stillstand des Herzes führen kann. Die erhöhte Herzleistung kommt andererseits der Versorgung der Muskeln mit Sauerstoff und Nährstoffen durch verstärkt zirkulierendes Blut zugute, die in Leistungs- und Gefahrensituationen auch wirklich benötigt wird, um uns aus der Gefahrenzone zu bringen.
2. Vagus – Regeneration und Heilung
Der eigentliche Heiler nach starken Stressbelastungen, wie auch nach dem anstrengenden Alltagsleben, ist jedoch der Vagus. Unter seinem Einfluss regeneriert sich der Körper, zum Beispiel im Schlaf, die am Tag unterdrückten Rhythmen beginnen wieder zu arbeiten und unser Körper fängt an, wie ein Musikinstrument zu schwingen. Das Herz kann sich regenerieren und der gesamte Organismus verjüngt sich unter dem Einfluss dieses hilfreichen Nervs. So kann man vereinfacht sagen, dass wir tagsüber altern, nachts aber, wenn wir gut schlafen, ein wenig jünger werden. Leider ist der Alterungsprozess etwas schneller als der Verjüngungsprozess, sodass wir insgesamt älter werden – unser Tribut an das Leben. Durch Optimierung unserer Schlafqualität, bei der uns der Vagusnerv hilft, können wir jedoch den Verjüngungsprozess so gut wie nur möglich gestalten.
Eines der faszinierendsten Kapitel der Vagusforschung ist wohl die Entdeckung, dass das Herz über die Rhythmen des Vagusnervs zum Klingen gebracht werden kann. Dies ist nicht nur metaphorisch gemeint, sondern es gelingt wirklich, dem Herzschlag akustische Klangstrukturen durch geeignetes Atmen oder Sprechen einzuprägen – über die Rhythmen im Vagusnerv, die durch diese Form des Atmens entstehen. Wir können also unser Herz zu einem Musikinstrument machen und darauf spielen, was wir im Tiefschlaf auch jede Nacht machen. Da diese Rhythmen unterhalb des menschlichen Hörbereichs liegen (Wale und Elefanten könnten sie hören), müssen sie musikalisch um einige Oktaven transponiert werden, um für uns hörbar zu werden.
Was aber kann man nun tun, um den Vagusnerv zu aktivieren? Hier kommen ein paar Tipps, um den Vagusnerv aktiv und jung zu halten.
So können wir den Vagusnerv bewusst aktivieren
Gedichte rezitieren (Germanist:innen aufgepasst!)
Tatsächlich zeigt der Herzschlag beim Sprechen von verschiedenen Gedichtformen charakteristische Frequenzen: Deklamatorische Gedichte wie „Ecce Homo“ von Friedrich Nietzsche, zeichnen sich durch chaotische Schwingungen der Herzschlagfolge aus, wogegen der ruhig dahinplätschernde Hexameter, wie er etwa bei Homers „Ilias“ vorkommt, musikalische Klangereignisse im Herzschlag auslöst. Der Hexameter und verwandte Versmaße wurden bereits im alten Griechenland zu therapeutischen Zwecken eingesetzt, zum Beispiel von Hippokrates im antiken Kurtheater.
Atemübungen machen
Auch Atemübungen sind ein ausgezeichneter Weg, um den Vagusnerv zu aktivieren und die Vagusaktivität zu stärken. Auch gesunde Lebensmittel wie Omega 3 Fettsäuren (in Leinöl und Walnussöl vorhanden), polyphenolhaltiges Obst und Gemüse sowie faserreiche und fermentierte Lebensmittel zur Stärkung des Mikrobioms und natürlich der Aufenthalt in der Natur haben sich zur langfristigen Stärkung des Vagus bewährt.
Buch
Tipp

Die heilende Kraft des Vagus
Noch mehr neue Aspekte zum Wundernerv und weitere detaillierte Anleitungen zu seiner Stärkung finden Sie in dem Buch:
Maximilian Moser: Die heilende Kraft des Vagus – die Bedeutung des Erholungsnervs für unsere Gesundheit. ecoWing, 208 S., 24 Euro, 2025
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