Mit Gravitationswellen lassen sich die verborgenen Seiten des Alls belauschen. Die meisten bislang entdeckten Quellen sind kollidierende Schwarze Löcher.
Ein Beitrag von Rüdiger Vaas
Der erste direkte Nachweis von Gravitationswellen am 14. September 2015 hat ein neues Fenster zum Weltraum geöffnet. War das ferne Universum bislang nur sichtbar – über das gesamte elektromagnetische Spektrum von der Radio- bis zur Gammastrahlung –, wird seitdem ein qualitativ völlig anderer Informationskanal erschlossen. Denn Gravitationswellen sind Schwingungen der Raumzeit selbst. Ausgelöst werden sie von brachialen Ereignissen, bei denen ein solches Schauspiel gleichsam die Bühne des Welttheaters in Bewegung versetzt. Vergleicht man dieses 1916 von Albert Einstein im Rahmen seiner Allgemeinen Relativitätstheorie vorausgesagte Phänomen mit Schall – wobei dem deformierten Luftdruck die Anregung der Raumzeit entspricht –, lässt sich das Universum inzwischen nicht nur betrachten, sondern erstmals auch hören. Das ermöglicht also ganz neue … nicht Einsichten, sondern Eindrücke von der Welt, in der wir leben.
Seit dem ersten Nachweis der Gravitationswellen – wofür Rainer Weiss, Kip Thorne und Barry Barish 2017 den Physik-Nobelpreis erhielten – haben die hochempfindlichen Detektoren LIGO und Virgo weit über 100 Quellen von Gravitationswellen detektiert. LIGO (Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory) besteht aus zwei Anlagen in den USA mit jeweils vier Kilometer langen Laserstrecken bei Livingston, Louisiana, und Hanford, Washington. Drei Kilometer sind es beim europäischen Detektor Virgo bei Cascina in Italien. Seit 2020 beteiligt sich auch der drei Kilometer große, unterirdische und tiefgekühlte Detektor KAGRA (Kamioka Gravitational Wave Detector) im früheren Kamioka, heute Hida, in Japan, dessen Empfindlichkeit allerdings noch gering ist.
Wellen und Quellen
Im November 2021 hat die LIGO-Virgo-Kollaboration den dritten und bislang neuesten Gravitationswellenkatalog veröffentlicht. Er verzeichnet 90 statistisch signifikante Nachweise. Die meisten stammen von der Verschmelzung Schwarzer Löcher mit Massen vom etwa 7- bis fast 100-Fachen unserer Sonne. Bei zwei oder drei gemessenen Ereignissen hat ein Schwarzes Loch einen Neutronenstern verschlungen. Und zweimal wurde die Kollision zweier Neutronensterne registriert, die ein Schwarzes Loch bildeten. Neutronensterne sind kollabierte Kerne ausgebrannter Riesensterne.
Nur in einem Fall, am 17. August 2017, konnte die kosmische Karambolage auch im elektromagnetischen Spektrum nachgewiesen werden: zunächst als Gammastrahlenblitz, dann optisch, im Röntgen-, Ultraviolett- und Radiobereich. Das erlaubte erstmals eine genaue Lokalisation der Quelle: der Crash zweier Neutronensterne im Außenbezirk der 130 Millionen Lichtjahre fernen elliptischen Galaxie NGC 4993 im Sternbild Wasserschlange.
Der aktuelle Gravitationswellenkatalog umspannt die ersten drei Beobachtungskampagnen O1 bis O3. Sie fanden zwischen September 2015 und März 2020 statt, unterbrochen von längeren Wartungs- und Aufbauphasen, in denen die Empfindlichkeit der Detektoren weiter gesteigert wurde. Seit Mai 2023 läuft O4. Noch ist die Kampagne nicht ausgewertet. Es wurden bereits über 150 signifikante Kandidaten aufgespürt (und mehr als 2.700 schwächere Signale). Wenn O4 im Juni 2025 beendet und die Analyse abgeschlossen ist, wird der Katalog wohl mindestens 200 weitere Einträge enthalten. Das ist erst ein Vorgeschmack dessen, was die immer besser werdenden Detektoren – neue sowie jene, die bereits im Bau oder in der Planung sind – erhaschen werden.
Ursprung Schwarzer Löcher

Die Daten werden bald ausreichen, um den Ursprung der Schwarzen Löcher zu erschließen. Die drei Hauptmodelle – die sich freilich nicht wechselseitig ausschließen – sind: erstens eine gemeinsame Entstehung als kollabierte Kerne massereicher Doppelsterne, die ihre äußere Hülle als Supernova ins All gesprengt haben. Zweitens die Paarbildung von isoliert aus Supernovae entstandenen Schwarzen Löchern, die sich in dichten Kugelsternhaufen wechselseitig eingefangen haben. Und drittens primordiale Schwarze Löcher, die sofort nach (oder vielleicht sogar vor?) dem Urknall aus extremen Dichteschwankungen entstanden wären.
Wenn mehr Ereignisse mit optischen Gegenstücken gefunden werden, kann auch die Kosmologie enorm profitieren. Dann wird es nämlich möglich, kosmische Distanzen auf eine ganz neue, rein geometrische Weise zu bestimmen. Das erlaubt Rückschlüsse auf die Ausdehnungsrate des Weltraums und die Güte des kosmologischen Standardmodells.
Kosmische Präzisionsuhren
Gravitationswellen können zudem indirekt nachgewiesen werden. Das gelang bereits in den 1970er-Jahren mithilfe zweier sich umkreisender Neutronensterne. Dafür erhielten Joseph H. Taylor und Russell Hulse 1993 den Physik-Nobelpreis. Die exakte Vermessung der Bahnparameter von Neutronendoppelsternen ermöglicht Präzisionstests der Allgemeinen Relativitätstheorie. Sie hat alle diese Überprüfungen bislang mit Bravour bestanden.
Auch als indirekte Gravitationswellendetektoren im wahrlich astronomischen Maßstab eignen sich Neutronensterne. Denn viele rotieren äußerst regelmäßig und rasch (manche häufiger als 500-mal pro Sekunde). Und sie emittieren oft Radiostrahlung, die ins All entweicht – vergleichbar mit sich drehenden Lichtkegeln von Leuchttürmen. Überstreicht ein solcher Radioschein regelmäßig die Erde, kann er als periodisches Blinken gemessen werden. Deshalb heißen solche Objekte Pulsare. (Das ist missverständlich, weil sie ja nicht pulsieren, obschon die Zu- und Abnahme ihrer Strahlung so anmutet.)
Pulsare fungieren als weit im All verstreute Präzisionsuhren, mit denen man große Entfernungen exakt bestimmen kann. Ändern sich diese Distanzen zur Erde sowie relativ zueinander geringfügig und auf eine charakteristische Weise, lässt das auf winzige, in der Summe jedoch merkliche Verzerrungen der Raumzeit schließen, wenn Gravitationswellen sie durchziehen. Das hat Steven Detweiler von der Yale University in New Haven, Connecticut, 1979 als Erster vorhergesagt. Ron W. Hellings und George S. Downs vom Jet Propulsion Laboratory im kalifornischen Pasadena haben diese Veränderungen 1983 mit einer Kurve beschrieben, die sich im Prinzip mit Messungen vergleichen lässt.
Das klingt äußerst kompliziert – und ist es auch. Dennoch versuchen mehrere internationale Forschungsteams seit vielen Jahren, solche Signale der Schwerkraft aufzuspüren: die Pulsar Timing Arrays (PTAs). Die Frequenzen liegen im Nanohertz-Bereich – also weit unterhalb der 10 bis 10.000 Hertz, für die LIGO und Virgo empfindlich sind.
Auf der Suche nach der Ursache
Mittlerweile vermessen sechs PTAs unabhängig voneinander mit den empfindlichsten Radioteleskopen weltweit jeweils bis zu 68 geeignete Pulsare (insgesamt 85 Pulsare, weitere 30 sind bereits in Planung). Die wichtigsten Konsortien sind das European PTA und NANOGrav (North American Nanohertz Observatory for Gravitational Waves) in den USA. Die anderen PTAs operieren in Australien, China, Indien und Afrika.
Die inzwischen sehr guten Daten sind miteinander verträglich, wurden im Lauf der Jahre immer präziser und weisen nunmehr mit einer statistischen Signifikanz von meist drei bis mehr als vier Sigma auf einen gleichförmigen Hintergrund an Gravitationswellen hin, genau wie von der Hellings-Downs-Kurve beschrieben. Wenn der Trend anhält und sogar eine kombinierte Auswertung der verschiedenen Observatorien gelingt, wird das Signal in wenigen Jahren, vielleicht schon 2025, fünf Sigma überschreiten und offiziell als entdeckt gelten. Das ist eine enorme Leistung, weil die Positionen der teils über 10.000 Lichtjahre entfernten Pulsare durch die Raumzeit-Schwingungen um nur etwa 100 Meter pro Jahrzehnt schwanken!
Der Ursprung des Gravitationswellenhintergrunds ist nicht eindeutig geklärt. Die Verschmelzung supermassereicher Schwarzer Löcher von Milliarden Sonnenmassen in Distanzen von vielen Milliarden Lichtjahren ist die wahrscheinlichste Ursache. Diskutiert werden auch Kollisionen von primordialen Schwarzen Löchern sowie brachiale Ereignisse in den ersten Sekundenbruchteilen des Universums, sogenannte kosmische Phasenübergänge, falls diese mit der Differenzierung der Naturkräfte und Elementarteilchen einhergingen. Wahrscheinlich hält das Weltall noch viele Überraschungen bereit.
Buch
Tipp

Jenseits von Einsteins Universum
Zur Entdeckung der Gravitationswellen die topaktuelle, erweiterte Neuausgabe!
Rüdiger Vaas: Jenseits von Einsteins Universum. Von der Relativitätstheorie zur Quantengravitation.
Kosmos, 544 S., 19,99 Euro, 2016
Rüdiger Vaas
Rüdiger Vaas ist Publizist, Dozent sowie Astronomie- und Physik-Redakteur beim Monatsmagazin bild der wissenschaft und Autor von 14 Büchern, darunter Jenseits von Einsteins Universum und Signale der Schwerkraft (Kosmos-Verlag).
© Headerbild | Illustration: Olena Shmahalo/NANOGrav