Dass unsere Bildung dringend einer geschlechtergerechten und diversitätssensiblen MINT-Bildung bedarf, dürfte inzwischen nur noch die wenigsten überraschen. Doch wie kann diese konkret aussehen und wie kann ich, wenn ich als Lehrkraft den Anspruch habe, meinen Unterricht diskriminierungssensibel zu gestalten, dies in meiner täglichen Arbeit umsetzen? Mit Fokus auf das Unterrichtsfach Mathematik sollen in diesem Beitrag einige Überlegungen vorgestellt werden.
Ein Beitrag von Aileen Fahrländer
Im Beitrag „Mädchen machen MINT – warum wir eine gendersensible MINT-Bildung brauchen“ ging es um das Warum: Warum sind Frauen in MINT-Bereichen unterrepräsentiert und was können Lehrkräfte allgemein tun, um dem entgegenzuwirken? In diesem Beitrag widmen wir uns einigen konkreteren Überlegungen. Als Basis dient dabei die Frage: Welches Bild haben wir selbst als Lehrkräfte von Mathematik und vermitteln es somit an unsere Schüler:innen weiter? Ich schließe mich dabei der Sichtweise von Mischau und Eilerts (2018) an, die dafür plädieren, dabei nicht an vermeintlichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern hinsichtlich Interessen, Erfahrungen und Kompetenzen oder Fähigkeiten anzusetzen, um eine (auch unbewusste) Reproduktion von Stereotypen und impliziten Zuschreibungen zu vermeiden. Als erster Schritt ist daher immer eine „(de)konstruktivistische Perspektive auf Prozesse des ‚doing gender‘ im Mathematikunterricht“ nötig (Mischau und Eilerts 2018, S. 127). Für die didaktische und methodische Konzeption von Mathematikunterricht schlagen sie folgende Aspekte vor (vgl. ebd.).
1. Lehr-/Lernformen differenzieren
Um forschendes Lernen, Handlungs- und Problemorientierung sowie selbstverantwortliche Lernprozesse zu ermöglichen und das Mathematiklernen in einen sozialen und kommunikativen Rahmen zu stellen, sollten kooperative Lernformen und Methoden sowie möglichst offene Aufgabenstellungen bevorzugt werden. Dies erlaubt zudem kreative, individuelle Lösungswege und eine positive Fehlerkultur. Kurz: Je differenzierter ich Unterricht gestalte, desto mehr Menschen spreche ich damit an (und damit auch desto mehr Geschlechter).
2. Stereotypenfreie Materialien wählen
Die gewählten Materialien wie Schulbücher oder Aufgabenblätter sollten alle Menschen ausgewogen abbilden sowie eine stereotypische Darstellung von zum Beispiel mathematikbezogenen Interessen vermeiden. Dies gilt insbesondere, aber nicht nur für Textaufgaben und Aufgabenkontexte sowie Abbildungen. In diesem Kontext spielt auch geschlechterneutrale Sprache eine Rolle.
3. Mathematikerinnen einbinden
Um Narrativen wie „Mathematik ist zu abstrakt“ oder „Mathe brauche ich nie wieder im Leben“ entgegenzuwirken, ist es hilfreich, die Mathematik nicht von Menschen zu entkoppeln, sondern als zentralen Teil von Gesellschaft und Kultur sichtbar zu machen. Dabei sind vor allem innermathematische Entwicklungsprozesse sowie historische Entwicklungen interessant. Wieso kennen nur die wenigsten Schüler:innen weibliche Mathematikerinnen? Dies mag zum Großteil an der Tatsache liegen, dass die Schulmathematik, die wir lehren (Pythagoras, Thales etc.) zu einer Zeit entstand, zu der Frauen der Zugang zu universitärer Bildung oft verwehrt blieb. Mit „neueren“ mathematischen Entwicklungen wurden zunehmend auch Frauen als Mathematikerinnen sichtbar (etwa Emmy Noether), deren Arbeiten meist jedoch weit über Schulniveau hinausgehen. Bleibt die Frage: Wieso richten wir den Blick nur in die Vergangenheit?
Begreifen wir Mathematik nicht als etwas Statisches und Abgeschlossenes, sondern als dynamische Wissenschaft mit zahlreichen ungelösten Problemen, lassen sich auch zeitgenössische Wissenschaftlerinnen in den Unterricht mit einbinden. Beispielsweise erhielt 2022 die Mathematikerin Maryna Viazovska die Fields-Medaille für ihre Arbeit im Bereich der dichtesten Kugelpackungen. Im Unterricht geht es dabei nicht darum, die Lösung innermathematisch nachvollziehen zu können, wohl aber das Problem dahinter: Wie kann man möglichst viele Kugeln auf möglichst kleinem Raum stapeln (Kramer 2024)? Anhand dieses Problems lässt sich (handlungsorientiert) der dynamische, wissenschaftliche (und auch historische) Charakter der Mathematik veranschaulichen.
Linktipp
Die Vorlesung von Prof. Dr. Blunck zu „Frauen in der Geschichte der Mathematik“ stellt das Leben und Werk ausgewählter Mathematikerinnen von der Antike bis zur Gegenwart vor und ist online verfügbar:
Gendersensible MINT-Lernumgebung
Wie könnte demnach eine Lernumgebung im MINT-Bereich aussehen, die sich um Gendersensibilität bemüht? Im Folgenden wird ein von uns entwickeltes Beispiel aus dem Bereich CAD und 3-D-Druck vorgestellt, das sich fächerübergreifend im Unterrichtskontext von Mathematik, Technik, Informatik und Kunst einsetzen lässt. Es handelt sich dabei im weitesten Sinne um eine Modellierungsaufgabe, die für die Klassenstufen 6 bis 8 geeignet ist und eine hohe Differenzierung erlaubt. Die Schüler:innen sollen (nach einer Einführung in die entsprechende Software) in einem CAD-Programm einen kleinen Schlüsselanhänger mit Einkaufswagenchip entwerfen und personalisieren.
Es handelt sich um eine offene, selbstdifferenzierende Aufgabe, die in einem kooperativen Lernsetting bearbeitet werden kann und verschiedene Lösungswege erlaubt; die Schüler:innen können kreativ, handlungsorientiert und selbstbestimmt tätig werden. Das Lernen von Mathematik (genauer: geometrische Körper, Symmetrien) geschieht eher „nebenbei“; im Fokus steht das Ausprobieren und spielerische Selbst-tätig-Werden. Die Aufgabe ermöglicht dabei vielfältige Problemlösestrategien und im Sinne eines „Trial and Error“ eine positive Fehlerkultur: Die Schüler:innen können in mehreren Durchläufen das von ihnen entworfene Modell testen und optimieren. Zudem wurde auf einen realistischen und authentischen sowie für die Lebensrealität der Zielgruppe relevanten Kontext geachtet, der den Alltags- und Anwendungsbezug der Geometrieaufgabe sichtbar macht.

Fazit
Es zeigt sich, dass es zum einen bereits einen Pool an gendersensiblen Aufgaben und Lernumgebungen mit entsprechenden Materialien gibt (Mischau und Eilerts 2018; Mischau et al. 2016; Mischau und Bohnet 2014; Mischau und Martinović 2017), dass zum anderen aber auch mit relativ geringem Aufwand eine Entwicklung oder Modifikation von Aufgaben hin zu einer größeren Gendersensibilität möglich ist. Gestalten wir Unterricht möglichst divers, sprechen wir mehr Schüler:innen damit an. Zentral erscheinen dabei – wie beschrieben – vor allem die Reflexion eigener Stereotype sowie die bewusste Auseinandersetzung mit diesen und eine allgemeine Bemühung um geschlechtergerechte Sprache sowie Repräsentation aller Geschlechter im eigenen Unterricht.
Quellen
Blunck, A. (2024). Frauen in der Geschichte der Mathematik. Online verfügbar unter: https://www.math.uni-hamburg.de/forschung/bereiche/geo/personen/blunck-andrea/frauen-mathematik.html [zuletzt aktualisiert am 25.09.2024, letzter Zugriff: 25.09.2024].
Kramer, J. (2024). Dichteste Kugelpackungen in höheren Dimensionen – Die Arbeiten von Maryna Viazovska. In: Mathematische Semesterberichte. https://doi.org/10.1007/s00591-024-00374-5
Maaß, K. (2007). Modellierungen – Aufgaben für alle Lernenden? In: Mathematik lehren (Sammelband Standards), S. 45–49.
Mischau, A.; Bohnet, K. (2014). Mathematik „anders“ lehren und lernen. In: I. Rieken und L. Beck (Hrsg.): Gender – Schule – Diversität. Genderkompetenz in der Lehre in Schule und Hochschule. Marburg: Tectum-Verl. (Marburger Schriften zur Lehrerbildung, 10), S. 99–126.
Mischau, A.; Bohnet, K.; Martinović, S. (2016). Bodenwischen, Datenanalyse, Frauengeschichte und Mathematik. In: M. Kampshoff und C. Wiepcke (Hrsg.): Vielfalt geschlechtergerechten Unterrichts – Ideen und konkrete Umsetzungsbeispiele für Sekundarstufen. Berlin: epubli, S. 37–79.
Mischau, A.; Eilerts, K. (2018). Modellieren im Mathematikunterricht gendersensibel gestalten. In: K. Eilerts und K. Skutella (Hrsg.): Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden (Realitätsbezüge im Mathematikunterricht), S. 125–142.
Mischau, A.; Martinović, S. (2017). Mathematics Deconstructed?! Möglichkeiten und Grenzen einer dekonstruktivistischen Perspektive im Schulfach Mathematik am Beispiel von Schulbüchern. In: N. Balzter, F. C. Klenk und O. Zitzelsberger (Hrsg.): Queering MINT. Impulse für eine dekonstruktive Lehrer_innenbildung. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich, S. 89–108.
Aileen Fahrländer
Aileen Fahrländer ist Didaktikerin für Mathematik und Naturwissenschaften am International Centre for STEM Education der Pädagogischen Hochschule Freiburg.
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