Skip to content

Warum wächst der Weltraum immer schneller?

Der Erkenntnisfortschritt der modernen Kosmologie verlief in den letzten zwei, drei Jahrzehnten rasant. Und doch sind die Konsequenzen äußerst kurios. Noch tappt die Wissenschaft vom Universum buchstäblich im Dunkeln, denn der Hauptbestandteil des Alls ist rätselhaft.

Ein Beitrag von Rüdiger Vaas

Das zeigt eine Bilanz der Bestandteile des Alls, gemessen am Anteil ihrer Energiedichte: Wäre das Weltall ein Cappuccino, dann würde die gesamte gewöhnliche Materie aus Protonen, Neutronen und Elektronen – also Sterne, Gas, Staub und Planeten – lediglich dem Schokopulver entsprechen. Der Milchschaum wäre die Dunkle Materie, die sich nur über ihre Gravitation bemerkbar macht, aber keinerlei Strahlung aussendet. Und die Hauptmasse, der Espresso, stünde für die noch mysteriösere Dunkle Energie, die allein aufgrund ihrer universellen Wirkung erschlossen wird, weil sich so erklären lässt, warum der Weltraum sich seit etwa sechs Milliarden Jahren immer schneller ausdehnt. Das ist also der Wissenszuwachs durch immer präzisere Messungen: Wir wissen heute ziemlich genau, was wir nicht wissen – und das betrifft rund 95 Prozent von allem.

Die dunkle Seite der Macht

Diese kosmische Zwischenbilanz klingt wie eine Satire, ist aber keine unfaire Charakterisierung des gegenwärtigen Standardmodells der Kosmologie, oft schlicht ΛCDM-Modell genannt. Es ist das erste Modell in der Geschichte der Erforschung des Universums, das die besten verfügbaren Daten auf wenige Prozent genau und ganz ohne frappierende Widersprüche erfassen kann. Mehrere der daran beteiligten Wissenschaftler wurden mit dem Physik- Nobelpreis ausgezeichnet. Und doch ist die Kehrseite dieses Erfolgs buchstäblich düster. Denn das Modell funktioniert nur, wenn bzw. weil die Bedeutung der normalen Materie marginal ist – eben ein Schokopulver des kosmischen Cappuccino. Die Hauptrolle im All spielen die Kalte Dunkle Materie (Cold Dark Matter, CDM) mit rund 25 Prozent der Gesamtenergiedichte und die Dunkle Energie mit sogar fast 70 Prozent. Erstere könnte aus bislang unbekannten Elementarteilchen bestehen, die nicht der elektromagnetischen Wechselwirkung unterliegen, oder aus primordialen Schwarzen Löchern, die sich dann schon in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall aus extremen Dichteschwankungen in der Urmaterie gebildet haben müssten. Teilchenphysiker:innen und Astronom:innen suchen seit Jahrzehnten fieberhaft nach dieser finsteren Macht, doch welcher Kandidat im Potpourri der Hypothesen der richtige ist, weiß niemand. Noch wirkmächtiger ist die Dunkle Energie. (Der Begriff wurde 1998 von Michael S. Turner von der University of Chicago geprägt.) Sie ist nötig, um die seit 1998 immer genauer gemessene beschleunigte Ausdehnung des Weltraums zu erklären. Bis dahin hatte man angenommen, dass sich die kosmische Expansion aufgrund der Anziehungskraft der Materie im All verlangsamt. Doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein, wie viele voneinander unabhängige astronomische Messungen mit unterschiedlichen Methoden belegen.

Einsteins größte Eselei?

Die allgemeine Relativitätstheorie – die Grundlage der gesamten modernen Kosmologie einschließlich des ΛCDM-Modells – hat gewissermaßen ein Plätzchen frei für etwas, das wie Antigravitation wirkt und den Raum gleichsam auseinandertreibt. Das könnte eine geometrische Eigenschaft der Raumzeit selbst sein oder aber eine Art Stoff mit sogenanntem negativem Druck: etwa ein unbekanntes Energiefeld oder das Quantenvakuum, das aus physikalischen Gründen nicht „Nichts“ sein kann. Die einfachste Erklärung wäre die Kosmologische Konstante, die üblicherweise mit dem großen Lambda, Λ, des griechischen Alphabets abgekürzt wird. Sie wurde bereits 1917 von Albert Einstein in seiner ersten Arbeit zur Kosmologie eingeführt, um den Weltraum statisch zu halten.

1931 widerrief er sie als die „größte Eselei“ seines Lebens, weil die astronomischen Beobachtungen von sich entfernenden Galaxien gezeigt hatten, dass der Weltraum nicht statisch ist, sondern expandiert. Aber Λ war keine Eselei, sondern steckt, wie inzwischen bewiesen ist, als eine Naturkonstante mathematisch zwingend in Einsteins Gleichungen. Die Frage lautet also lediglich, welchen Wert Λ hat. Und das ist eine empirische, also nur durch Messungen zu beantwortende Frage. Das kosmologische Standardmodell nimmt der Einfachheit halber an, dass Λ hinter der Dunklen Energie steckt – daher ΛCDM. Das ist eine vorläufige Hypothese: pragmatisch, ökonomisch und wissenschaftstheoretisch sinnvoll, weil Λ im Gegensatz zu allen anderen Spekulationen immerhin in der Relativitätstheorie etabliert sowie am einfachsten überprüfbar ist. Lokal ist die Energiedichte von Λ winzig (etwa 7 × 10−30 Gramm pro Kubikzentimeter oder 6 × 10−10 Joule pro Kubikmeter), aber in der globalen Summe riesig.

Die Suche nach zwei Werten

Um das Rätsel der Dunklen Energie zu lösen, müssen Kosmologen deren Zustandsgleichung bestimmen. Das läuft darauf hinaus, ihren w-Wert zu messen und zu ermitteln, ob er sich im Lauf der Entwicklungsgeschichte des Universums verändert hat. Dieser Wert ist eine reine Zahl: der Quotient von Druck p und Energiedichte ρ. (Es gilt: w = p/ρc2, wobei die Lichtgeschwindigkeit c auf 1 normiert wird.) Für Λ ist w = –1, und zwar überall und immer. Andere Modelle für die Dunkle Energie, etwa die prominenten Quintessenz-Modelle, nehmen meist einen größeren Wert an (–1/3 > w > –1). Es gibt allerdings auch extreme Modelle mit w < –1 („Phantomenergie“) oder mit zeitlich variablem wa. (Dabei ist w[a] = w0 + wa[1 – a]; hier bezeichnet a den Skalenfaktor als Maß kosmischer Distanzen und w0 den w-Wert heute.) Zu den wichtigsten Aufgaben der modernen Kosmologie gehört es, w zu bestimmen. Daran arbeiten inzwischen einige Tausend Personen auf Grundlage mehrerer, teils unabhängiger Methoden. Die große Metastudie eines internationalen Teams um Luis A. Escamilla und Eleonora Di Valentino von der britischen University of Sheffield resümierte vor ein paar Monaten: „Trotz ein paar verstreuter Hinweise fanden wir keine überzeugenden Indizien, die ein Abrücken von der Kosmologischen Konstante erzwingen … bislang!“ Der beste gemittelte w-Wert beträgt dieser Analyse zufolge –1,013 plus/minus 0,04. (Die Planck-Sonde der Europäischen Weltraumorganisation ESA, die die kosmische Hintergrundstrahlung des gesamten Himmels mit höchster Präzision vermessen hat, ergab –1,03 plus/ minus 0,03.)

Karte der Galaxienverteilung

Allerdings hat das Dark Energy Spectroscopic Instrument (DESI) nun erste Hinweise darauf entdeckt, dass die Energiedichte der Dunklen Energie mit der Zeit abgenommen haben könnte. DESI hat 5.000 robotisch positionierbare, an zehn Spektrografen angeschlossene Glasfasern in der Fokalebene des 4-Meter-Teleskops auf dem Kitt Peak in Arizona und kann damit jede Nacht die Distanz und Bewegung von über 100.000 Galaxien bestimmen. Das wird die beste dreidimensionale Karte der Galaxienverteilung ergeben. Die erste Auswertung der Daten von mehr als sechs Millionen bis viele Milliarden Lichtjahre fernen Galaxien ist jetzt abgeschlossen. Daraus errechnete das DESI-Team in Kombination mit den Messungen von Supernovae und der Planck-Sonde, dass die Dunkle Energie heute im Quintessenz-Regime liegt (w: –0,4 bis –0,8), aber früher stärker ausgeprägt war (wa < 0), sich eventuell sogar im Phantom-Regime befand. Allerdings genügen die Daten noch nicht den strengen Ansprüchen für eine Entdeckung (die statistische Signifikanz beträgt momentan 2,5 bis 3,9 Sigma, nötig sind aber 5 Sigma). Di Valentino und ihr Team haben die DESI-Daten mit weiteren Supernovae- Messungen kombiniert sowie verschiedene wa-Modelle noch genauer analysiert und die Ergebnisse bestätigt. (Falls die Daten naher Supernovae falsch geeicht sind, ist ΛCDM aber weiterhin unangefochten, hat George Efstathiou von der Cambridge University gezeigt.) Wenn die künftigen, immer besser werdenden Daten die DESITendenz erhärten, wäre das eine sensationelle Entdeckung. Sie hätte weitreichende Folgen für die Grundlagenphysik und die Zukunft des Universums.

Rüdiger Vaas

Rüdiger Vaas ist Publizist, Dozent sowie Astronomie- und Physik-Redakteur beim Monatsmagazin bild der wissenschaft und Autor von 14 Büchern, darunter Hawkings neues Universum und Tunnel durch Raum und Zeit (Kosmos-Verlag).

© Headerbild | DESI Collaboration /KAPNO/NOIRLab/NSF/AURA/P. Horalek/R.Proctor

Beitrag teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Pinterest
XING
WhatsApp
Email

Ähnliche Beiträge

Illustration von Neutronensternen
18. März, 2025
Mit Gravitationswellen lassen sich die verborgenen Seiten des Alls belauschen. Die meisten bislang entdeckten Quellen sind kollidierende Schwarze Löcher.
Erschöpfte Frau greift sich an die Stirn
3. März, 2025
Lampenfieber vor einer Präsentation, Prüfungsangst oder einfach ein stressiger Schultag – Stress gehört für viele Schüler:innen leider zum Schulalltag, ebenso wie für Lehrkräfte. Doch zu viel davon kann die Konzentration und das Wohlbefinden beeinträchtigen. Genau hier kommt der Vagusnerv ins Spiel: Wie kein anderer Nerv hat der längste Nerv unseres Körpers, der Vagusnerv, und das damit verbundene parasympathische Nervensystem, in den letzten Jahren höchstes Interesse bei gesundheitsorientierten Menschen gewonnen. Kein Wunder, ist er doch DAS zentrale Kommunikationsorgan zwischen dem Gehirn und den Körperorganen. Das Beste: Er lässt sich aktivieren.
Zeppelin in der Abendsonne
25. Februar, 2025
Von Radaröfen haben Sie nie gehört? Auch Hydrobergbau ist Ihnen kein Begriff, ebenso wenig wie die Kohlenstaub-Lokomotive? Selbst beim Itera-Plastikfahrrad oder beim Elektropflug glimmt kein Erinnerungsfunke auf? Kein Grund zur Sorge: Fast niemand erinnert sich mehr an diese Dinge, denn es sind „gescheiterte Innovationen“, deren Existenz über kurz oder lang von der Welt vergessen wurde. In Erinnerung sind bestenfalls die angesichts verlorener Subventionsmillionen spektakuläreren Fälle, etwa die zumindest vorerst gefloppte Magnetschwebebahn Transrapid oder der 2002 wohl endgültig gescheiterte Frachtzeppelin Cargolifter, in dessen Halle sich heute immerhin vom Urlaub in den Tropen träumen lässt.
Forscherin mit Handschuhen bearbeitet eine grüne Salatpflanze im Labor mit einer Pinzette
20. Februar, 2025
Die Klimakrise verschärft sich rasant und stellt schon jetzt weltweit Menschen vor existenzielle Probleme, auch im Hinblick auf Landwirtschaft und Ernährung. Die Landwirtschaft leidet unter den Folgen der Klimakrise und muss sich an die neuen Extremwettersituationen anpassen. Zudem erhöhen das massive Artensterben und andere ökologische Folgen menschlichen Handelns zunehmend den Druck, bisherige ökonomische und soziale Praktiken zu hinterfragen und zu verändern. Ein aktuell kontrovers diskutierter Ansatz ist die Neue Gentechnik (NGT).
viele Euro-Münzen auf einem Haufen
20. Februar, 2025
Der reichste Mann der Welt ist der Entenhausener Erpel Dagobert Duck. Auch der zweit-reichste Mann ist ein Erpel. Er heißt Mac Moneysac und lebt in Simililand in Südafrika. Erst auf Platz drei kommt mit dem Amerikaner Elon Musk ein Mensch. Doch wie reich Dagobert Duck ist, darüber gibt es unterschiedliche, zum Teil stark widersprüchliche Angaben, und da er, genau wie Donald Trump, seine Steuererklärungen nicht veröffentlicht, wird man die genaue Größe seines Vermögens wohl auch nie erfahren. Der am häufigsten genannte und wahrscheinlichste Wert ist 30 Fantastillionen Taler. Aber wie groß ist die Zahl Fantastillion?
Schüler und Schülerin sitzen an einem Tisch im Klassenzimmer, während ihnen die Lehrerin etwas erklärt
11. Februar, 2025
Die Auseinandersetzung mit politischer Neutralität in Schulen und die Verantwortung von Lehrkräften in gesellschaftlichen Krisensituationen sind von zentraler Bedeutung für die Weiterentwicklung und den Schutz einer demokratischen und menschenfreundlichen Gesellschaft. Der Beutelsbacher Konsens bietet seit Jahrzehnten Orientierung für die politische Bildung in der Schule, auch über den Politikunterricht hinaus. Er betont die Notwendigkeit, kontroverse Themen im Unterricht kontrovers zu behandeln, ohne die Schüler:innen dabei zu indoktrinieren.
Mädchen löst eine Matheaufgabe
22. Januar, 2025
Trotz vielfältiger Maßnahmen in den Bereichen Gendersensibilisierung, Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit sind Frauen in Deutschland in MINT-Berufen im Schnitt immer noch unterrepräsentiert. Zwar gibt es mittlerweile Fachgebiete mit paritätischer Verteilung (etwa Biologie, Medizin), aber auch viele Fachgebiete mit weiterhin extrem niedrigen Frauenanteilen (beispielsweise Physik, Ingenieurswissenschaften). Das zeigt, wie wichtig es ist, eine gendersensible MINT-Bildung zu fördern, die Mädchen und junge Frauen gezielt ermutigt, sich in bisher männerdominierten Bereichen auszuprobieren und langfristig Fuß zu fassen.
Bild eines Schülers mit VR-Brille
16. Januar, 2025
Kann die Zukunft uns verzaubern? Oft blicken wir mit gemischten Gefühlen auf das, was vor uns liegt. Doch Trend- und Zukunftsforscher wie Matthias Horx ermutigen uns, die Möglichkeiten von morgen nicht nur als mitunter Angst einflößende Herausforderung, sondern auch als vielversprechende Chance zu sehen. Sein Buch Der Zauber der Zukunft lädt dazu ein, sich mit einem positiven Blick auf Veränderungen einzulassen – ein Gedanke, der gerade für Lehrkräfte spannend ist. Doch wie können wir diese Perspektive auch in die Klassenzimmer bringen?
Mit dem DESI-Instrument in Arizona wird gegenwärtig eine dreidimensionale Karte der Position und Bewegung vieler Millionen Galaxien erstellt
27. November, 2024
Der Erkenntnisfortschritt der modernen Kosmologie verlief in den letzten zwei, drei Jahrzehnten rasant. Und doch sind die Konsequenzen äußerst kurios. Noch tappt die Wissenschaft vom Universum buchstäblich im Dunkeln, denn der Hauptbestandteil des Alls ist rätselhaft.
Strahlend heller Sonnenschein am klaren blauen Himmel mit ein paar zarten, dünnen Wolken im Hintergrund.
25. November, 2024
Wie fängt man Sonnenlicht am besten ein? Das ist nicht nur bei der Aufstellung von Photovoltaikanlagen wichtig, sondern auch für die Sonnenenergiewandler der Pflanzen, also bei ihren Blättern und deren Verzweigung und Ausrichtung. Es ist nicht vorteilhaft, wenn sie sich gegenseitig im Wege stehen und beschatten. Die Blattstellung folgt einem geometrischen Muster, das, mathematisch betrachtet, mit Spiralen, Selbstähnlichkeit, Fibonacci-Zahlen und dem Goldenen Winkel zu tun hat.
Mehrere Hände, die in einem Klassenzimmer vor einer Tafel mit mathematischen Formeln in die Luft gehoben sind
15. November, 2024
Bildungsdiskussionen in Deutschland sind immer auf Messers Schneide: Auf der einen Seite müssen wir darüber sprechen, was wir eigentlich erreichen wollen. Auf der anderen Seite soll es nicht in langwierige Diskussionen über abstrakte Begriffe abdriften. Was vonnöten ist, ist ein Kern, der die Diskussion bestimmt. Dieser liegt darin, warum wir noch Schulen haben. Sie sind Orte des Lernens – oder sollten es sein. Wir brauchen einen Gegenentwurf zu dem traditionellen Schulverständnis.
Energiefresser Internet
28. Oktober, 2024
Das Internet ist zu einem unverzichtbaren Teil unseres Alltags geworden. Wir alle nutzen es, wenn auch zu ganz unterschiedlichen Anteilen, zur Kommunikation, Unterhaltung, Arbeit und Bildung. Doch kaum jemand macht sich Gedanken darüber, wie viel Energie für all diese Dienste und Daten im Netz aufgewendet werden muss.