Wie fängt man Sonnenlicht am besten ein? Das ist nicht nur bei der Aufstellung von Photovoltaikanlagen wichtig, sondern auch für die Sonnenenergiewandler der Pflanzen, also bei ihren Blättern und deren Verzweigung und Ausrichtung. Es ist nicht vorteilhaft, wenn sie sich gegenseitig im Wege stehen und beschatten. Die Blattstellung folgt einem geometrischen Muster, das, mathematisch betrachtet, mit Spiralen, Selbstähnlichkeit, Fibonacci-Zahlen und dem Goldenen Winkel zu tun hat..
Ein Beitrag von Dr. Inge Kronberg
Anders als die üblichen technischen Photovoltaikanlagen bestehen die Sonnenkollektoren der Pflanzen überwiegend nicht aus starren, großflächigen Einheiten, sondern aus kleinen Blättern in variabler Stellung. Die Blätter sind dabei nicht beliebig angeordnet, sondern zweigen in einem bestimmten Muster ab. Das gilt nicht nur für grüne Laubblätter, sondern auch für die daraus ableitbaren Blütenblätter. An Pflanzenteilen mit gestauchter Achse, also bei Knospen, Blattrosetten (Wegerich, Hauswurz), Blütenständen (Sonnenblume, Dahlie) oder Fruchtständen (Kiefernzapfen, Ananas), lässt sich das besonders gut beobachten (Abb. 1). Erkennbar ist oft eine Anordnung in Spiralen. Es lohnt sich, mit der Kamera auf die Suche nach solchen Mustern zu gehen und die Spiralen zu zählen.
Selbstähnlichkeit in der Natur
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist der Romanesco. Diese an der Gemüsetheke erhältliche Blumenkohlsorte zeigt einen Bau aus doppeltspiralig in Kegeln angeordneten grünen Blütenknospen. Von der Spitze ausgehend ist der nächste Kegel etwa so breit wie die beiden vorausgehenden Kegel zusammen. Jeder Kegel besteht seinerseits aus Knospen, die jeweils so breit sind wie die beiden vorigen Knospen zusammen. Das Muster des ganzen Kohls wiederholt sich also im Muster seiner Teile, Romanesco-Kohl ist „selbstähnlich“ (fraktal) mit einer recht einfachen Erzeugungsregel. Geometrisch lässt sich das durch Viertelkreise darstellen: Dabei beträgt der Radius des nächsten Viertelkreises die Summe der beiden vorigen Viertelkreisradien, also 1, 1, 2, 3, 5, 8. So entsteht ein Spiralmuster (Abb. 2). Markiert und zählt man die Anzahl der Spiralen beim Romanesco, erhält man im Gegensatz zum Kiefernzapfen 8 rechtsläufige und 13 linksläufige Spiralen (bei der Sonnenblume sind es dagegen 89 rechtsläufige und 55 linksläufige Spiralen).
Von Fibonacci-Zahlen zum Goldenen Winkel
Das Bildungsgesetz dieser Zahlenfolge veröffentlichte der Mathematiker Leonardo Fibonacci schon zu Beginn des 13. Jahrhunderts. In der nach ihm benannten Fibonacci-Folge erhält man die folgende Zahl durch Addition der beiden vorigen Zahlen (fn = fn-2 + fn-1). Jedes Glied der Fibonacci-Folge ist also gleich der Summe der beiden vorhergehenden. Teilt man auf diese Weise Strecken und Flächen auf, wird das als Goldener Schnitt bezeichnet und oft als besonders harmonisch empfunden. Fibonacci-Zahlen haben also nicht nur biologische und mathematische Anknüpfungen, sondern können auch im Kunstunterricht behandelt werden. Mit Fibonacci-Zahlen lässt sich weiterrechnen: Dividiert man eine Fibonacci-Zahl jeweils durch ihren Vorgänger, erhält man eine neue Zahlenfolge, die sich dem Wert ϕ = 1,618… nähert. Das lässt sich im Unterricht etwa mit einer Excel-Tabelle nachvollziehen. Das Besondere an ϕ (phi): Wie die Kreiszahl π (pi = 3,1416…) hat ϕ unendlich viele Nachkommastellen ohne eine Wiederholung (Periode) und lässt sich nicht als Bruch darstellen. ϕ ist also keine rationale, sondern eine irrationale Zahl. Übertragen auf einen Kreis (360°) nähert sich dieses Aufteilungsverhältnis dem sogenannten Goldenen Winkel von etwa 137,5… Grad. Das heißt: Vollzieht man mehrere Drehungen im Goldenen Winkel kommt man nie wieder an der exakt gleichen Stelle an; beim rechten Winkel (90°) ist das dagegen bereits nach vier Drehungen der Fall.
Buch
Tipp
Dr. Inge Kronberg: Biologie-ABC im Garten. Band 3: Naturerlebnis.
Verlag Naturverstehen, 75 S., 14 Euro, 2024
Goldener Winkel in der Natur
Was hat das nun alles mit dem Verzweigungsmuster bei Pflanzen zu tun? Neue Blätter entstehen durch teilungsfähige Zellen am Ende des Sprosses (Vegetationspunkt). Werden die Blattanlagen im Goldenen Winkel angeordnet, können sie sich nicht überlappen, die Folgeblätter können die Vorgänger also nicht beschatten, sondern sind jeweils etwas versetzt (Abb. 3). Nach mehreren Umdrehungen erhält man daher einen optischen Eindruck von Spiralen. Diese Aufteilung ist nicht nur platzsparend, sondern erleichtert auch das störungsfreie Öffnen und Schließen von Blütenständen und Zapfen sowie die Sortierung der Leitbündel im Spross. Was der Mensch nachzurechnen versucht, scheint in der Natur „wie von selbst“ zu entstehen. Die Pflanze geht natürlich nicht mit einem Geodreieck vor, wenn neue Blätter wachsen. Die tatsächlich dahintersteckenden molekularen Mechanismen werden durchaus noch diskutiert. Modellhaft kann man sich vorstellen, dass vorhandene Blattanlagen einen Inhibitor-Stoff abgeben, der die Bildung neuer Blattanlagen im direkten Umfeld verhindert. Erst in einem bestimmten Abstand fällt dessen Konzentration unter einen Schwellenwert, und neue Blattanlagen können wachsen. Auch ein Zusammenspiel mehrerer Stoffe ist denkbar, beispielsweise das Konzentrationsgefälle von Verteilerstoffen für den Wachstumsregulator Auxin. Hier sind im Rahmen der Stammzellforschung noch viele Erkenntnisse zu erwarten. Aber schon jetzt kann man sich einfach an dem schönen Anblick erfreuen.
Zum Weiterlesen
Quarks: Kann die Natur Mathe?
Selbstähnlichkeit der Fibonacci-Spirale als Animation:
Dr. Inge Kronberg
Dr. Inge Kronberg ist promovierte Biologin, Fachautorin und Wissenschaftsjournalistin. Sie schreibt in Lehrbüchern und Fachzeitschriften über aktuelle Themen aus der Ökologie, Genetik und Evolutionsbiologie. Im Schulbereich ist sie als Autorin von Natura Oberstufe, Markl Biologie und verschiedenen Unterrichtsheften tätig.